■ Rede in Solingen zum 1. Jahrestag des Mordanschlags
: „Wir werden die Stärkeren sein!“

Wir trauern um Gürsun Ince, geborene Genc, 27, als sie starb; wir trauern um Hatice Genc, 18; um Gülistan Öztürk, 12; um Hülya Genc, 9, und Saime Genc – die Täter haben sie gerade vier Jahre alt werden lassen. Und wir denken an Bekir Genc und Güldane Ince, die beide in jener Todesnacht schwer verletzt wurden.

Der fünffache Mord von Solingen vor einem Jahr hätte verhindert werden können, wenn die Schutz- und Sicherheitsorgane der Stadt, ihre Politiker und die Bevölkerung offene Augen und offene Ohren für die lokale Gefahr von rechts gehabt hätten. Dem Anschlag von Solingen waren unzählige Warnzeichen vorausgegangen, ein Steppenbrand. In einer Dichte ohnegleichen, über ganz Deutschland hinwegprasselnd wie ein Sturmgewitter, konnte an Ausländern fast jede Form von Straftaten begangen werden.

Aus jener Zeit vor Solingen hat sich mir ein Bild von bestürzender Symbolkraft eingeprägt, eine Momentaufnahme des Fernsehens: im Hintergrund, unscharf, eine johlende Skinmenge, die volle Schärfe der Kamera aber auf eine Person konzentriert – auf einen Jugendlichen, etwa zwanzig, ganz in Leder, mit Naziabzeichen übersät, hingefläzt in einen auf offener Straße plazierten Sessel, die Beine übereinandergeschlagen und die Miene gezeichnet von triefendem Hohn. Erst der Kameraschwenk offenbarte, wem der galt: einer Riege von Polizisten, die die Augen niederschlugen und verlegen herumstanden – die personifizierte staatliche Hilflosigkeit gegenüber der Brutalität einer aufs äußerste entschlossenen Rechten!

Im Herzen Europas, in Deutschland, war ein quasi rechtsfreier Raum entstanden, eine Periode der Staatsabwesenheit und der gesellschaftlichen Indifferenz, in der Angehörige von Minderheiten so gut wie risikolos angegriffen, verletzt und getötet werden konnten. In dieser Situation bekamen auch die Nachrichten von antisemitischen Aktionen eine neue Bedeutung, veränderte sich ihre Signalkraft für die Juden in Deutschland. Es bedurfte nicht mehr des Anschlags auf die Synagoge in Lübeck vom 25. April 1994, um den Zusammenhang zwischen Fremdenhaß und Antisemitismus zu erkennen. Der hatte sich schon lange vorher gezeigt, nicht zuletzt durch die wachsende Zahl von, selbstverständlich stets anonymen, Drohungen über Post und Telefon an jüdische Adressaten.

Dann, in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992, sechs Monate und eine Woche vor dem Mord von Solingen, starben in Mölln drei Türkinnen den Feuertod: Bahide Arslan, Ayse Yilmaz und Yeliz Arslan – sie durfte nur zehn Jahre werden. An jenem Morgen schrieb ich Bundeskanzler Kohl einen Brief, in dem ich ihm ankündigte, daß angesichts der unverantwortlichen Schwäche des Staates gegenüber den ausländerfeindlichen und antisemitischen Gewalttätern Juden in Deutschland dazu übergegangen seien, ihre Verteidigung in die eigenen Hände zu nehmen. Der zentrale Satz dieses Briefes war nicht der Hinweis, daß dies bis zur Selbstbewaffnung gehe, der zentrale Satz war vielmehr die Begründung dafür. Sie lautete: „Nie wieder werden wir Überlebenden des Holocaust unseren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen – niemals!“

Auf diesen Akt einer verzweifelten Not- und Gegenwehr hat Helmut Kohl geantwortet, am übernächsten Tag, dem 25. November 1992, im Deutschen Bundestag. Er sagte dort: „Das Gewaltmonopol des Staates darf nicht angetastet werden. Wer dies versucht, der muß die ganze Härte des Staates zu spüren bekommen.“

Ich kommentiere: also genau die Härte, die die rechtsextremistischen Gewalttäter bis heute nicht zu spüren bekommen haben. Da ich von interessierter Seite immer wieder als „jüdischer Pistolero“ verunglimpft worden bin, werde ich diesen Platz nicht verlassen, ohne in unser aller Interesse, und solidarisch mit anderen Bedrohten, diese Anschuldigung klar und unmißverständlich zu widerlegen.

Wie konnte es überhaupt zu dieser andauernden, schweren Bedrohung von Minderheiten in Deutschland kommen? Es konnte dazu kommen, weil der Staat gegenüber der epidemischen Ausbreitung der Gewalt von rechts eine Passivität an den Tag legt, die das eigentlich Schockierende ist. Kommt die weichliche Haltung doch von einer Seite, die stets auf ihr Gewaltmonopol gepocht und es auch angewendet hatte, als es galt, Industriekapitäne, Politprominenz, Manager gegen die mörderischen Anschläge der Linksterroristen zu schützen. Da standen Regierung und Staat in des Wortes buchstäblicher und übertragener Bedeutung Gewehr bei Fuß, wurden ganze Regimenter von Sicherheitskräften mobilisiert und Hunderte von Personen und Objekten rund um die Uhr geschützt. Nun jedoch, als es um die Unversehrtheit von Schwachen ging, da war das gleiche Gewaltmonopol nicht nur nicht anwesend, wie jüngst wieder in Magdeburg, sondern auch dabei, sich zurückzuziehen, wie in Rostock-Lichtenhagen, oder gar dem Nazimob noch Begleitschutz zu geben, wie in Fulda.

Ich frage den Kanzler, die Regierung, die Politiker und die Gesellschaft nach fast 20.000 fremdenfeindlichen und antisemitischen Anschlägen, darunter 6.000 tätlichen Angriffen: Hat der Bedrohte denn wehrlos das Schicksal hinzunehmen, das der Bedroher ihm zugedacht hat? Ist es denn das Recht des Bedrohers, den Bedrohten unvorbereitet anzutreffen?

Diese Fragen blasen nicht zum allgemeinen Aufstand, sie rufen nicht zu den Waffen. Sie besagen nichts anderes, als daß das Grundproblem nicht da beginnt, wo Bedrohte sich Überlegungen zu ihrer Selbstverteidigung machen müssen. Das Grundproblem beginnt bei der Zulassung von Zuständen, die die Frage von Gegenwehr überhaupt erst aufwerfen, also Zuständen, die heute zum deutschen Alltag gehören. Mein Brief an den Kanzler konnte keine Sekunde auch nur den leisesten Zweifel daran aufkommen lassen, daß dies ein Akt der Notwehr war, ohne jeden offensiven Charakter oder auch nur die kleinste Absicht dazu. Die Bedrohung durch Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus ist ein Status, der von keinem Bedrohten selbstgewählt ist – er ist unfreiwillig, und er kann und darf nicht andauern, denn er signalisiert eine gesellschaftlich unhaltbare Situation. Natürlich wissen Bedrohte: Notwehr ist keine Lösung, Notwehr ist eine Reaktion. Die Erlösung von der Bedrohung kann allein erfolgen durch die Aufhebung der Ursachen, und das wird eine politische Aufgabe sein!

Ich spüre aber auch in mir das dringende Bedürfnis, Trost zu spenden und Trost zu empfangen; spüre, daß in mir das Verlangen lebt, Versöhnendes zu sagen, Hoffnung zu geben und Mut einzuflößen. Und wenn ich das tue, glauben Sie nicht, das sei Pflichtübung und Zweckoptimismus – ich vermag das, weil ich mich nicht allein fühle, so wie Sie sich nicht allein fühlen sollten. Schauen Sie in die Gesichter der Schülerinnen und Schüler der Mildred-Scheel- Schule, ihrer Lehrerinnen und Lehrer, und auf das, worauf sie hier hingewirkt haben – um dann zu wissen: wir sind nicht allein!

Ich habe die großen Kundgebungen gegen Ausländerfeindlichkeit nicht vergessen, bei der in Köln war ich dabei. Da mittendrin hatte ich das Gefühl: Das ist deine Republik, so hast du sie dir gewünscht, in ihr, unter diesen Menschen, kannst du dich geborgen fühlen. Es ist richtig: dabei allein darf es nicht bleiben, bei Lichterketten, Aufmärschen, Bekundungen. Die gewaltige Energie, die da sichtbar wurde, muß übertragen werden, sie muß die Regierung bedrängen, die Parlamente beleben, die Ausschüsse inspirieren und – die Gewalttäter entmutigen.

Lassen Sie uns also beherzt darangehen, Zustände zu schaffen, die all diesen Skins, lederbewehrten Glatzköpfen, Baseballschlägertypen in Springerstiefeln samt den noch viel gefährlicheren geistigen Urhebern à la Franz Schönhuber und Gerhard Frey klarmachen, daß sie die Schwächeren sind, daß sie keine Chance haben, daß ihnen ein Risiko erwächst, sollten sie versuchen, Gewalt anzuwenden. Lassen Sie uns also Zustände schaffen, die das Ende des Mangels an Zivilcourage einläuten. Das muß Hand in Hand gehen mit der Gewißheit, daß die Schutz- und Sicherheitsorgane rasch zur Stelle sind, wo und wann immer die bewaffnete rechte Gewalt ihre Schrecken zu verbreiten sucht.

Aber stelle sich auch niemand seiner guten Vorsätze wegen über andere, sondern horche jedermann mißtrauisch in sich hinein, ob Ansprüche gegenüber den Mitmenschen gedeckt sind durch die Maßstäbe, die man an sich selber legt, nehme sich also niemand aus von seiner eigenen kritischen Schärfe. Man lüge sich auch nicht in die eigene Tasche und tue so, als wenn es für Ausländer und für Deutsche immer leicht wäre, zusammenzuleben, leicht wäre, ein unbefangenes Verhältnis untereinander herzustellen. Oft genug ist es, für beide Seiten, nicht leicht und mit mancher Falle verbunden – und das ist natürlich.

Nur Gewalt, Gewalt muß dabei geächtet werden – womit sich auch alle Überlegungen zur Gegenwehr erübrigen würden. Davon soll das öffentliche Klima bestimmt sein. Lassen Sie uns geloben, daß wir das unsere dazu tun werden, geloben auch, in diesem Kampf nicht unsere Herzen zu verhärten, so wenig, wie das Lachen zu verlernen und sich des Lebens zu freuen. Denn erst wenn wir über die Trauer diese Fähigkeiten verloren hätten, erst dann gäbe es keine Hoffnung mehr, erst dann wären wir von unseren Feinden besiegt.

So aber – Gürsun, Hatice, Hülya, Saime, Gülistan, Bekir und Güldane – so aber werdet Ihr, werden wir, mit unseren Bundesgenossen, die Stärkeren sein! (gekürzt)

Ralph Giordano