Litauens Befreier trommelt sich wach

Per Referendum will Vytautas Landsbergis Litauens Linksregierung stürzen / Die allerdings hält das für verfassungswidrig / Unterschriftensammeln, Schimpfen auf die Nomenklatura  ■ Aus Vilnius Klaus Bachmann

In dem Park in der Nähe des Gedimino-Boulevards haben sich auf einen Aufruf sämtlicher litauischer Gewerkschaftszentralen über tausend Menschen eingefunden. Die meisten sind älter, tragen zerschlissene Kleidung und lauschen mit verknitterten Gesichtern den Reden auf der Tribüne. Dort wettert ein jüngerer Mann im grauen Anzug gegen Kapitalisten und Geschäftemacher. Von Zeit zu Zeit wird er von Beifallsstürmen unterbrochen. Zwei Damen mittleren Alters halten ein selbstgebasteltes Plakat in die Höhe: „Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze“.

Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit in Litauen gerade bei 1,8 Prozent. Das kommt daher, daß die Betriebe überzählige Arbeiter nicht entlassen, sondern ihnen einfach nur noch den gesetzlichen Mindestlohn von 50 Litas zahlen – ein Fünftel des Durchschnittslohns und etwas über 10 Dollar. „Wie soll man davon leben?“ fragt eine der Frauen. Sie schätzt, daß in Wirklichkeit ein Drittel der Litauer arbeitslos ist: „Es gibt auch noch die Möglichkeit, Beschäftigte für bis zu drei Monate in unbezahlten Urlaub zu schicken.“

Etwas weiter sammelt ein älterer Mann Unterschriften unter zwei Petitionen. Die eine dient der Indexierung von Sparguthaben, die andere der Ausschreibung von Neuwahlen. Dafür trommelt die rechte parlamentarische Opposition, angeführt von Ex-Präsident Vytautas Landsbergis – erster Staatschef des unabhängigen Litauens, der schon 1990, zu Sowjetzeiten, die litauische Selbständigkeit verteidigte.

Czeslaw Jursenas, Parlamentspräsident und führendes Mitglied der herrschenden „Arbeitspartei“, gibt zu, daß der litauischen Linksregierung der Wind ins Gesicht bläst. „Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst“, sagt er. Die parlamentarische Mehrheit bröckelt. Noch hält sie, „weil die Dissidenten aus unseren Reihen ausgeglichen werden durch die Unterstützung fraktionsloser Abgeordneter“.

Die bisherige Linie habe Litauen nahezu einen Stillstand der Inflation gebracht. Sie ist von 188 Prozent im letzten Jahr auf 13,3 Prozent in den ersten fünf Monaten dieses Jahres gesunken. Die Handelsbilanz ist nahezu ausgeglichen. Vytas Navickas, stellvertretender Wirtschaftsminister Litauens, gibt sich optimistisch, was die Privatisierung angeht: Das Ziel der Regierung, 40 Prozent der Staatsbetriebe zu privatisieren, sei bereits zu zwei Dritteln erreicht. Am schnellsten sei das bei Kleinbetrieben gegangen. Litauen privatisiert gegen Dollars, gegen Litas und gegen Vouchers, die an die Bevölkerung ausgegeben wurden. Die Vouchers laufen Ende 1994 aus.

Was jedoch für Novickas ein Erfolg ist, ist für Landsbergis der wichtigste Kritikpunkt: Die Privatisierung, sagt er, verlaufe chaotisch, unkontrolliert und mafios. Häufig würden Betriebe weit unter Wert an Parteigänger der Arbeitspartei vergeben. Ein Staatsbetrieb werde in eine Aktiengesellschaft verwandelt mit privatem Minderheitsanteil; durch Überbewertung der privaten Anteile erhalte der private Investor dann die Aktienmehrheit. „Privatisierung bedeutet hier, daß wir Staatseigentum an die alte Nomenklatura abgeben“, wettert Landsbergis.

Um die erst seit einem Jahr amtierende exkommunistische Arbeitspartei aus ihren Sesseln zu vertreiben, benötigt Landsbergis nach eigenen Angaben 300.000 Unterschriften innerhalb von zwei Monaten. Die Hälfte, so versichern seine Sammler, sei schon zusammen. Doch Czeslaw Jursenas läßt das nicht gelten: „Die Verfassung sieht ein Referendum über die Auflösung des Parlaments gar nicht vor. Es kann nur vom Präsidenten aufgelöst werden oder sich selbst auflösen. Dafür hat die Opposition keine Mehrheit.“

Und selbst wenn ein Referendum zustande kommen sollte, braucht Landsbergis' Partei mehr als die Hälfte der stimmberechtigten Bürger. Wie wenig wahrscheinlich das ist, zeigt der seit Monaten dauernde Kampf um das Parlamentsmandat von Präsident Brasauskas. Der mußte, als er Staatschef wurde, sein Mandat abgeben. Es ist bis heute nicht besetzt, denn an den Nachwahlen müssen sich mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten seines Wahlkreises beteiligen. Dreimal wurde bereits vergebens gewählt. Beim letzten Mal betrug die Wahlbeteiligung ganze 4,7 Prozent.