„Mord von Solingen war vermeidbar“

Vom Schulkind bis zur Prominenz wurde gestern in Solingen des Jahrestags des Brandanschlages gedacht / Schon Samstag demonstrierten rund 4.000 Menschen gegen rassistische Gewalt  ■ Aus Solingen Walter Jakobs

Am grünen Drahtzaun, der die hangabwärts gelegene Baulücke sichert, klemmen Blumengebinde und handschriftliche Trauerbekundungen. Mit dicken Buntstiften haben sechs Kinder hier einen Gruß an ihre in den Flammen grausam umgekommene Schulfreundin – „leb wol Hülya“ – hinterlassen. Wir wünschen uns, so schreiben die Schulanfänger, daß es „keinen Ausländer Has mehr gibt“, keinen „schreit in der Welt“, sondern „viele gute mänschen“.

Tausende von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unterstrichen diesen Erstkläßlerwunsch gestern mit einer Menschenkette, die vom Ort des Grauens kilometerweit durch die Stadt bis hin zur Mildred-Scheel-Schule reichte. Eine Verbindung vom Tatort zum Mahnmal, das die örtliche Jugendhilfewerkstatt geschaffen und im Eingangsbereich der Schule aufgebaut hat. Es zeigt zwei Figuren, die ein Hakenkreuz zerreißen, umrandet von 2.000 Metallringen mit den Namen der SpenderInnen dieser von den Jugendlichen unter Mithilfe der Künstlerin Sabine Mertens zusammengeschweißten Skulptur. Fünf Ringe mit den Namen der am frühen Morgen des 29.5.1993 durch den Brandanschlag ermordeten türkischen Mädchen und Frauen gleiten am Sonntag mittag durch die Menschenkette, bevor sie am Mahnmal den anderen Eisenringen hinzugefügt werden. Das niedergebrannte Haus ist auf Wunsch von Mevlüde und Durmus Genc, die durch den Mordanschlag ihre Enkeltöchter Hülya (9) und Saime (4), ihre Töchter Hatice (18) und Gürsun (27) sowie ihre gerade aus der Türkei zu Besuch weilende Nichte Gülistan (12) verloren haben, abgerissen worden.

In einer eindrucksvollen Rede zur Enthüllung des von den Jugendlichen geschaffenen Mahnmals redete Ralf Giordano Klartext: „Der fünffache Mord von Solingen hätte verhindert werden können, wenn die Schutz- und Sicherheitsorgane der Stadt, ihre amtierenden Politiker und die Bevölkerung offene Augen und Ohren für die lokale Gefahr von rechts gehabt hätten.“ Die staatliche Passivität gegenüber der „epidemischen Ausbreitung“ der rechten Gewalt sei das „eigentlich Schockierende unserer Epoche“, sagte der Kölner Schriftsteller unter dem Beifall der überwiegend jungen ZuhörerInnen.

Zuvor hatte die 16jährige Fadime Genc eine Rede ihrer erkrankten Mutter während der offiziellen Gedenkveranstaltung vor dem Rathausplatz verlesen. Darin kündigte die seit 22 Jahren in Solingen lebende Mevlüde Genc erneut an, „trotz der unbeschreibbaren Schmerzen werde ich den Rest meines Lebens hier verbringen“. Die leidgeprüfte Mutter und Großmutter appellierte an alle Eltern und LehrerInnen, sich als die „Schäfer ihrer Kinder“ zu verstehen und ihnen „Respekt und Liebe“ zu lehren. Der politischen Führung in Deutschland hielt Mevlüde Genc vor, immer noch nicht nach den politischen Drahtziehern der nicht abreißenden Anschläge zu forschen: „Warum sieht man immer noch weg?“

Auch Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, forderte den Staat auf, endlich aufzuwachen. Er habe gerade im Hinblick auf die Magdeburger Hetzjagden auf Ausländer das Gefühl, „daß hier wider besseres Wissen immer noch verharmlost wird“. Scharf geißelte Bubis die andauernde „Gleichgültigkeit“ eines großen Teils der Bevölkerung der „rassistischen Fremdenfeindlichkeit“ gegenüber. Diese Gleichgültigkeit war am Wochenende auch in Solingen überall zu spüren. Sicher, einige tausend beteiligten sich an den Demonstrationen und Gedenkfeiern, aber die Mehrheit der 160.000 Solinger schaute auch am Sonntag weg.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau rief, Adorno zitierend, dazu auf, eine Gesellschaft zu schaffen, die es allen Menschen erlaube, „ohne Angst verschieden zu sein“. Erneut sprach sich Rau für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft aus.

Während die Versöhnungsbotschaft im Zentrum der offiziellen Gedenkfeier stand, herrschte auf der am Samstag vom „Solinger Appell“ organisierten Demonstration ein anderer Ton. Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der PDS, sprach von „der kalten Wut“, die sie erfasse, wenn sie die Politik der Bundesregierung nach dem „größten faschistischen Terroranschlag“ betrachte. Alle unmittelbar nach der Tat abgegebenen Versprechungen nach Erweiterung der politischen und sozialen Rechte für Ausländer seien gnadenlos „vom Tisch gefegt worden“. Dem gerade gewählten neuen Bundespräsidenten Roman Herzog warf Jelpke vor, die Ausländer-raus-Propaganda der Rechten nur „in verkleideter Form“ wiederzugeben.

An der völlig friedlich verlaufenen Demonstration beteiligten sich gut viertausend Menschen. Nicht zuletzt aus Furcht vor neuen Krawallen hielten sich die Grünen davon ebenso fern wie die Gewerkschaften. Omnipotent präsent war dagegen die Polizei. Schon die Zufahrt nach Solingen unterlag einer umfassenden Kontrolle. Allein am Samstag durchsuchte die Polizei fünftausend Wagen und über achttausend Menschen. Das olivgrüne Outfit der über viertausend eingesetzten Beamten prägte das Bild der Stadt. Kreativität bewiesen die Autonomen. Aus ihren Reihen drang die Parole des Tages: „Wo wart ihr in Rostock? Wo wart ihr in Magdeburg?“

Siehe auch Seite 10