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Nicht genutztes Niemandsland

■ Die Essener Fotoausstellung „vis-à-vis“ zeigt nachindustrielle Landschaften

Schon die Definition von Landschaft entpuppt sich als Konstrukt: Nirgends hat man es mehr mit Wiesen und Wäldern, sondern eher schon mit durchkultivierten Gegenden zu tun. Stadt- und Industrielandschaften haben nicht nur eine romantische Vorstellung von unerschlossen geglaubten Arealen verdrängt, sie bedingen auch die letzten Schnittstellen von Urbanität und Nutzfläche: Der stadtnahe Wald ist ebenso Baustein in einer parzellierten Kulturlandschaft wie die Autobahn oder das ausgegliederte Einkaufszentrum.

„vis-à-vis“, eine Ausstellung im Essener Ruhrlandmuseum, versammelt Arbeiten von jeweils vier Fotografen aus Lothringen und dem Ruhrgebiet, die sich mit dem Begriff der postindustriellen Landschaft auseinandersetzen. Neben dem Vergleich geographischer und wirtschaftlicher Verwandtschaften der beiden ehemaligen Montanindustrie-Standorte steht jedoch bereits in der Konzeption vor allem ein Abfragen fotografischer Haltungen und Herangehensweisen im Vordergrund der ausgestellten zweiten Natur.

Nichts ist in der Sehweise moderner Industriebilder vom Idealismus vergangener Künstlerbegegnungen übriggeblieben. Wo Albert Renger-Patzsch Schornsteine und Fördertürme durch dramatische Untersichten ins Monumentale erhob, ist diese Aufwertung bereits bei Bernd und Hilla Becher der Erkenntnis gewichen, daß auch diese Anlagen eines Tages verschwinden werden und demzufolge überhaupt dokumentarisch festgehalten werden müssen. Die zeitgenössischen Beiträge zur Ausstellung interessieren sich nur noch peripher für Hochöfen und Stahlwerke.

Die notdürftig ausgebesserte Fassade eines Mietwohnblocks nach einem Bergschaden, eine gestreifte Wellblechwand, Brachland mit Resten von Schotter und Grün. Joachim Brohm erkundet verbrauchte oder ungenutzt gebliebene Lebensräume im Revier. Seine Bilder erreichen in neuer Scanachrom-Technik nun das Format von Gurskys Großmotiven. Im direkten Vergleich, Wand an Wand zu dessen scharfen, kontrastgesättigten Colorabzügen im auratisch abstrahlenden Holzrahmen, sind Brohms Bilder eher zart pointilliert und lösen sich ohne Bezug zur Differenziertheit der landschaftlichen Vorlage in farbiger Abstraktion auf. Anders Andreas Gursky: Er kompiliert seinen Beitrag mit alten und neuen Arbeiten zum Thema Verkehr. Zentrales Motiv und zugleich Standpunkt im Moment der Aufnahme ist für ihn die Brücke als gedankliche Umsetzung von Transport und der Überwindung von Entfernungen. Architektur als Metapher, die Landschaften zerschneiden und verbinden kann. Aus Gosbert Adlers Sicht befindet sich vorrangig die Stadt selbst in einem Übergangsstadium – von alter zu neuer Architektur. Bauzäune verstellen ihm als Bewohner den Blick auf seine trostlose Stadt. Mit dezenter Kleinbildtechnik fotografiert stehen diese Bilder in Komposition und Ausarbeitung kalkuliert, aber nebensächlich im Gegensatz zu ihrer musealen Erscheinung.

Seit Jahren bemüht sich das Ruhrgebiet mit Macht um einen Wandel seiner strukturellen Voraussetzungen. Ähnlich wie die wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltungen zu einer nachindustriellen Region greifen die Autoren in ihren Arbeiten diese sich verändernden Maßstäbe auf. Bereits Mitte der achtziger Jahre hatte der Kommunalverband Ruhrgebiet Projektaufträge an Dokumentarfotografen erteilt. Der damalige Titel – „Endlich so wie überall“ – scheint auch bei Joachim Schumacher noch Gültigkeit zu haben. In souveräner Manier hat er im gesamten Ruhrgebiet Einkaufszentren und Technologieparks dokumentiert, ohne daß das Abgebildete auf irgendwelche Spezifika des Ballungsraumes verweisen würde. Industrie- als Niemandsland.

In krassem Kontrast dazu verbleiben die französischen Fotokünstler bei der Darstellung gegenwärtiger Industrieflächen. Weitläufige Produktionsstätten beherrschen das Bildformat etwa der Landschaften Thierry Speths. Gilbert Fastenaekens mystifiziert Bauwerke im dunklen Schwarz der Foto-Emulsion und verwandelt sie so in theatralische Räume, deren Wirkung allein durch die verwendete Technik zustandekommt. Geradezu kunsthandwerklich hat Claude Philippot seine „falschen“ Panoramen ausgearbeitet. Jeweils zwei überlappende Kleinbildmotive, als Palladiumprint veredelt, zeichnen Hafenbecken und Bahnanlagen als ein rückläufiges Bild der Romantik. Thomas Seelig

Die Ausstellung „vis-à-vis – Fotografien aus Lothringen und dem Ruhrgebiet“ noch bis zum 5. Juni im Ruhrlandmuseum Essen.

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