Am „Jour J“ brach die Hölle aus

Die Landung der Alliierten in der Normandie war von Massenbombardements begleitet / Niemand hat die toten Zivilpersonen gezählt / Jahrzehntelang war das Thema in Frankreich tabu  ■ Aus Caen Bettina Kaps

„Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen.“ Mit dem schnoddrigen Sprichwort wischt der Historiker Rémy Desquèsnes die Frage beiseite, ob die Alliierten bei der Landung in der Normandie das Leben der französischen Zivilbevölkerung vielleicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben.

Desquèsnes arbeitet in der großen Gedenkstätte für die Normandieschlacht, dem „Memorial für den Frieden“ in Caen. Dort ist er für die Bildungsarbeit verantwortlich. Ihn fasziniert die militärische Seite der Operation: „Bei der Landung am Morgen des 6. Juni brachten die Alliierten eine absolut einzigartige militärische Macht zum Einsatz“, doziert Desquèsnes und reiht die Superlative aneinander: „Mehr als 7.000 Schiffe nahmen an der Operation teil, so viel hat vorher und nachher kein Admiral befehligt, hinzu kamen 12.000 Flugzeuge. Das bedeutet, daß den ganzen Tag über stets mindestens 1.000 Maschinen gleichzeitig in der Luft waren, um die Normandie zu überwachen. 20.000 Fallschirmspringer und 140.000 Marinesoldaten waren im Einsatz.“

Den 50.000 SchülerInnen, die das Memorial jedes Jahr besuchen, will Desquèsnes jedoch auch klarmachen, welche Opfer US-amerikanische, britische und kanadische Soldaten für die Freiheit gebracht haben. „50.000 Alliierte starben, 150.000 wurden entweder verletzt oder gefangengenommen.“ Die deutschen Totenzahlen sind ebenfalls bekannt: 60.000 Angehörige der Wehrmacht verloren in der Normandie das Leben.

Befreiern und Besatzern wurden Zeichen gesetzt: Grabesfelder, mit einem Wald von Kreuzen, militärisch ordentlich in Reih und Glied. Die getöteten Zivilisten hingegen liegen diskret verstreut auf den Friedhöfen der Kirchen oder in Massengräbern für die „unbekannten Opfer der Bombardierungen“.

Ihr Leid wurde nie erfaßt. Vielleicht waren es 15.000 Tote, wie eine Schätzung lautet, vielleicht weniger, vielleicht mehr. „Es gibt keine einzige Statistik über die Zahl der getöteten Zivilisten, das hat nie jemanden interessiert und ich glaube, daß diese Zahl auch niemals ermittelt werden wird“, sagt Jacqueline Wurmlinger.

„Wir waren halb verrückt vor Hunger und Angst“

Jacqueline war 14 und ging in Saint-Lô zur Schule, als die Bomber kamen. Unter Freundinnen hatten sie zuvor wochenlang insgeheim das V-Zeichen gemacht, um sich gegenseitig davon zu überzeugen, daß die Landung bald stattfinden würde. Am Jour J konnten die Einwohner der Stadt den Kampflärm zwischen Landungstruppen und deutschen Besatzern hören.

Was sie damals nicht ahnten, war, daß am Abend des so lang erwarteten Jour J für sie die Hölle ausbrechen sollte: „Da begannen die Bombardierungen, die wochenlang anhielten, dreimal täglich“, erzählt die grauhaarige Frau. „Wir waren halb verrückt vor Angst und Hunger. Wir wußten überhaupt nicht was los war, im Gegensatz zu den Leuten in Caen. So war uns nicht klar, daß die Alliierten nur im Calvados und in der Manche gelandet waren. Wir dachten, die gesamte Nordwestküste sei besetzt worden, das sagten ja auch die Flugblätter zur Feindtäuschung. Daher wußten wir nicht, daß wir nach Süden hätten fliehen können.“

Die Bewohner von Saint-Lô mußten dafür büßen, daß ihre Stadt Stützpfeiler der deutschen Gegenwehr war: Auf einem Gebiet von nur 11 Quadratkilometern gingen 5.000 Tonnen Bomben nieder. Seither heißt Saint-Lô auch „die Hauptstadt der Ruinen“. „Für uns waren die Deutschen die Feinde und dennoch waren die Alliierten für die meisten Ruinen und die meisten Toten hier verantwortlich“, sagt Jacqueline Wurmlinger.

Städte wie Caen, Lisieux, Aulnay-sur-Odon, Valognes und Coutances wurden ebenfalls stark zerstört. In Caen wurde selbst das Krankenhaus bombardiert, 160 Kranke und 15 Krankenschwestern wurden tot aus den Trümmern gezogen. Die Strategie des Bombenteppichs ging auf einen Befehl des britischen Feldmarschalls Montgomery zurück, der dabei das Einverständnis des oberkommandierenden Generals Eisenhower hatte. Die Ruinen sollten den deutschen Nachschub verhindern. Da die Deutschen das Straßennetz jedoch genau kannten, war diese Taktik militärisch erfolglos.

„Das Gefühl, mein Vater wollte mich töten“

Alliierte Soldaten bekam Jacqueline Wurmlinger gar nicht zu Gesicht. Sie sah nur deutsche Soldaten, die in panischer Angst um ihr Leben rannten, genauso wie die Franzosen. Einer von ihnen, der 18jährige Soldat Franz Gockel, der bei der Landung der Alliierten auf Omaha Beach verwundet worden war, hat seine Erlebnisse aufgeschrieben. Völlig überrascht berichtet er über die Reaktion der Einheimischen, denen er bei seiner Flucht in der Stadt Vire begegnet ist. Vire war kurz zuvor von einem amerikanischen Luftangriff zerstört worden, die Häuser brannten noch. „In einer Seitenstraße standen plötzlich einige Franzosen vor mir. Ich glaubte, sie würden nun ihre Wut über die Zerstörung an mir auslassen. Doch es kam anders. (.. Einer) zog hierbei unter einem Hemd einen Dolch hervor und sagte mir auf Französisch: pour l'Americain, für den Amerikaner. So groß war die Wut und Enttäuschung der Franzosen über die Amerikaner.“ Über diese Seite der Geschichte wird auch heute nicht gesprochen.

Es hat lange gedauert, bis Jacqueline Wurmlinger sich selbst offen eingestehen konnte, daß der Jahrestag der Landung der Alliierten für sie kein Anlaß zum Feiern ist. Nach dem Krieg war es für Franzosen unmöglich, die Alliierten zu kritisieren, von denen Zehntausende in Frankreich ihr Leben gelassen hatten. „40 Jahre lang wollte ich verdrängen, daß für mich nur leidvolle Erinnerungen mit der Landung verbunden sind.“ Erst bei den Gedenkveranstaltungen von 1984 wurde ihr bewußt, daß ausschließlich von den Opfern unter den Soldaten gesprochen wurde. Auch heute verteilt der Regionalrat der Normandie wieder Postkarten, die die Realität verfälschen.

Über einem naiv Fähnchen schwenkenden Jungen heißt es: „Im Juni 1944 sagten wir ihnen Thank You, heute sagen wir Welcome.“ - „Das stimmt doch gar nicht“, beharrt Jacqueline Wurmlinger. „Wir haben damals nicht Danke gesagt, sondern at last, endlich.“ Doch wer damals freudig auf die Befreier gewartet hatte, wurde bitter bestraft: „Ich verstand das nicht. Von der ersten Bombennacht an hatte ich ganz stark so ein Gefühl, als ob mein Vater mich plötzlich hätte töten wollen. Ich hatte so sehr an die Alliierten geglaubt. Warum taten sie das?“, sagt Jacqueline Wurmlinger, und muß mit den Tränen kämpfen. „Diese Frage taucht heute noch auf, 50 Jahre später. Warum? Jeder erklärt es sich auf seine Weise, denn es gibt keine generelle Antwort.“