„Alte Soldaten erinnern sich gerne“

■ Als Flüchtling verließ der Schriftsteller Stefan Heym 1935 Europa. 1944 kam er zurück – als amerikanischer Soldat. Zu dem Erinnerungs-„Trinkfest“ in der Normandie fährt er nicht

taz: Fahren Sie zur D-Day- Feier in die Normandie?

Stefan Heym: Nein.

Würden Sie gern?

Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite wird es eine hochoffizielle Sache sein, auf der anderen Seite ein Trinkfest, wie man es in Frankreich liebt. Ich war bereits einmal in der Normandie – um den Soldatenfriedhof zu besuchen.

Zehntausende sind in der Normandie umgekommen. Fänden Sie ein stilles Gedenken nicht angemessener als das Spektakel, das jetzt veranstaltet wird?

Auch jetzt ist es keine Feier im Sinne einer Festivität, sondern eine Erinnerung. Und die ist völlig berechtigt. Das war eine opferreiche und wichtige Schlacht, die sehr viel zur Niederlage des Nazismus beigetragen hat. Ich bin der Überzeugung, daß die Franzosen mehr als das Recht haben, das zu feiern.

Den Sieg über Nazideutschland zu feiern ist eine Sache, in Kriegserinnerungen zu schwelgen eine andere.

Ich kenne diese Veteranenverbände, habe selbst in Amerika dazugehört. Wenn man da zusammenkommt, geht das nie ohne Alkohol. Alte Soldaten erinnern sich eben gerne – und sie erinnern sich immer falsch. Es ist wie Jägerlatein. Trotzdem: Wenn ich Zeit gehabt hätte, wäre eine Reise in die Normandie ganz hübsch gewesen. Vor wenigen Jahren hatte ich ein Treffen mit meiner speziellen Einheit, der Psychological Warfare, in New York. Da sind die, die noch leben, zusammengekommen. Ungefähr zwanzig Mann, die Einheit war ja nicht sehr groß. Das war sehr interessant und sehr würdig.

Mit wieviel Mann sind Sie in der Normandie angekommen?

Mit dreien, die ich selber geführt habe. Wir waren nur der Teil einer Kompanie, der sich mit dem Schreiben von Flugblättern und mit Radiosendungen befaßt hat.

Hatten Sie Angst?

Als wir ankamen, war der Strand schon erobert. Da erwartete uns bereits jemand mit dem Auto und ich bin mit Luxus in die Invasion gefahren. Aber am Abend wurde schon geschossen. Und dann hatten wir Angst vor Gas, weil wir annahmen, daß die Deutschen welches einsetzen würden. Aber die hatten noch mehr Angst vor einem Gasangriff.

Kanzler Kohl wird in der Normandie nicht mitfeiern – obwohl es FranzösInnen gibt, die ihn in der ersten Reihe sehen möchten. Wo würden Sie Kohl gerne sehen?

Kohl hat erklärt, er hätte die Gnade der späten Geburt. Das heißt, daß man nicht dazugehört – zu keiner Seite. Denn die Gnade der späten Geburt bedeutet: Ich war nicht dabei, ich hab noch in die Windeln geschissen, als das passierte. Das muß er nun tragen. Aber auch wenn er älter und auf der Seite der Verlierer gewesen wäre, weiß ich nicht, mit welch erhebenden Gefühlen er zur Feier dieser Landung erschienen wäre. Seine Gefühle sind sowieso immer andere gewesen – das hat er in Bitburg gezeigt.

„Verlierer“ ist ein militärischer Begriff. Der französische Philosoph André Glucksmann argumentiert, daß man die Geschichte der Landung nicht auf eine militärische Geschichte reduzieren solle. Die Frage der Befreiung dürfe nicht zu einer Frage des Sieges herabgewürdigt werden. Deshalb, sagt Glucksmann, gehörten die Deutschen zur D-Day-Feier in die Normandie. Denn auch sie seien ja vom Nazismus befreit worden.

Monsieur Glucksmann hat in seinem Leben schon einen Haufen Quatsch geredet. In diesem Falle aber ist die Frage: Auf wessen Seite steht man heute? Was war damals und wie war es? Man kann ja nicht ein ganzes Volk absolut und für immer verurteilen. Aber man kann auch nicht erwarten, daß die anderen – die dieses Volk befreit haben – mit den Unterdrückern dieses Volkes zusammen nun freudig Händchen haltend das Gedenken an eine so opferreiche Sache wie die Invasion begehen. Wichtig ist – und das wäre die Aufgabe der deutschen Regierung gewesen – einmal klarzumachen, wie es damals war. Sogenannte Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Aber das haben die deutschen Regierungen, was die Nazizeit betraf, nie richtig getan. Weder im Osten noch im Westen.

Schon damals haben sich die Deutschen nicht befreit gefühlt und noch heute ist hier im Land von Kapitulation die Rede.

Einige haben sich sicher befreit gefühlt, aber die meisten nicht. Mehrheitlich haben sie wohl eher gedacht: Gott sei Dank, jetzt ist es vorbei. Aber dann kam sehr schnell die neue Zeit und der kalte Krieg. Und damit war jede Vergangenheitsbewältigung erledigt. Das ist aber nicht allein die Schuld der Deutschen.

Die Franzosen werden wütend, wenn von „Invasion“ statt von „Landung“ die Rede ist – auch wenn nur eine Handvoll Widerstandskämpfer an der Aktion beteiligt waren und gerade die Normandie voller Kollaborateure steckte ...

Das ist wahr ...

Wie ist Ihnen die französische Bevölkerung damals begegnet?

Ich bin von der Normandie aus nach Rennes gefahren. Zu diesem Zeitpunkt war noch kein einziger amerikanischer Soldat in der Bretagne. Aber von Seiten des französischen Volkes habe ich nur Freundlichkeit erlebt. In Rennes war ich dann baß erstaunt, als die Bevölkerung den Widerstandskämpfer de Gaulle mit Unmut begrüßt hat.

Lag das nicht an den Kämpfen innerhalb der Résistance?

Das sicher auch und auch daran, daß de Gaulle eine bestimmte politische Linie verfolgte, die nicht alle Franzosen wollten. Aber ich habe mich damals mit den innerfranzösischen Angelegenheiten nicht sehr beschäftigt. Ich hatte die „deutschen Interessen“ am Herzen.

Sie haben deutsche Kriegsgefangene verhört. Waren die Soldaten froh, daß sie überlebt hatten, oder war für sie eine Welt zusammengebrochen?

Unterschiedlich. Ich glaube auch nicht, daß sie mir gegenüber sehr offen waren. Ich war ihnen verdächtig. Ich habe als Amerikaner viel zu gut deutsch gesprochen.

Sie haben sich nicht als Deutscher zu erkennen gegeben?

Nein. Ich war amerikanischer Sergeant. Aber die Interrogationsoffiziere und –sergeanten waren meistens deutsche Flüchtlinge. Amerika war schon immer ein Land der Asylanten.

Da muß man wegen eines politischen Gedichts aus seiner Heimat abhauen, flüchtet vor den Nazis ins Ausland, macht Propaganda gegen sie und begegnet plötzlich nach Jahren den eigenen Landsleuten wieder – als Kriegsgegner. Wie fühlt man sich dabei?

Ich fand es nicht besonders aufregend. Ich kannte die Burschen ja nicht. Aber mich interessierte, was sich geändert hat in den Jahren von 1933 bis 1944, als ich nicht in Deutschland lebte. Für die jungen Männer hatte sich nicht viel geändert, sie hatten nur zusätzlich Kriegserfahrung. Ob sie die richtigen Folgerungen daraus gezogen haben, weiß ich nicht. Auf jeden Fall waren sie gescheit genug gewesen, die Hände zu heben und zu sagen: I surrender. Einige hatten geplant, sich zu ergeben, andere haben es gemacht, weil sie umzingelt waren und fertig.

Haben sie einen der Männer, die sich in der Normandie ergeben haben, später wiedergetroffen?

Nein, hat sich keiner bei mir gemeldet. Aber es sind Leute gekommen, die erzählt haben, sie hätten mir in der Normandie gegenübergestanden. Darunter auch Schriftsteller, Heinz Knobloch zum Beispiel.

Die Deutschen haben Marlene Dietrich und Willy Brandt gerne vorgeworfen, daß sie im Krieg auf der falschen Seite gestanden und so ihr Vaterland verraten hätten. Sie haben in der DDR gelebt. Da war Ihre Seite die politisch korrekte. Jetzt wollen Sie sich im vereinten Deutschland in den Bundestag wählen lassen. Befürchten Sie, daß man Ihnen Ihre Vergangenheit um die Ohren schlagen wird?

Na ja, ich werde ja nicht Bundeskanzler. Trotzdem kann es natürlich passieren, daß Leute im Bundestag kommen werden und sagen: Aber Sie haben doch...! Dann werde ich ihnen antworten: Ja, ich habe!

In der DDR hat man Ihnen nie vorgehalten, Sie hätten auf der falschen Seite gestanden?

Im Gegenteil. Wenn ich jemanden getroffen habe, der früher bei der Wehrmacht war, vielleicht noch an derselben Front in der Normandie, dann hat sich eher eine Art Kameraderie ergeben. Er war Soldat, ich war Soldat. Vielleicht lag das auch daran, daß es in der DDR keinen großen Kriegsroman gab. Und so wurde aus meinem Roman „Die Kreuzfahrer“ (In Westdeutschland veröffentlicht unter dem Titel „Der bittere Lorbeer“, Anm. d. Red.) fast ein DDR-Kriegsroman. Den Titel „Kreuzfahrer“ hatte ich gewählt, weil Eisenhower (damals Oberbefehlshaber der alliierten Invasionstruppen, Anm. d. Red.) an dem bewußten 6. Juni einen Tagesbefehl erließ, in dem er die ganze Operation als einen „Kreuzzug“ bezeichnete.

Im „bitteren Lorbeer“, den Sie kurz nach dem Krieg geschrieben haben, beurteilen Sie die Amerikaner sehr kritisch – vor allem wegen der Geschäfte, die sie im und mit dem Krieg betrieben. Als Sie 1935 als Flüchtling und Student in die USA kamen, waren Sie noch völlig begeistert von den Menschen und dem Land.

Noch in der Normandie hatte ich ziemliche Rosinen im Kopf. Aber es gab einen Mann in meiner Einheit, auch deutscher Jude, der das ganz anders sah. Ich erinnere mich an eine Nacht in Südengland, wo wir warteten, um für die Invasion eingeschifft zu werden. Ich machte da in Idealismus und er reagierte hohnlachend. Ich war sehr gekränkt und böse damals.

Was hat Ihre Gefühle geändert?

Ich lese gerade die Tagebücher von Thomas Mann aus dem Jahre '51, wo er sich entschließt aus den USA wegzugehen. Und wo er genau dieselben Empfindungen hatte wie ich.

Welche?

Trauer. Bei Mann hat sich das so geäußert, daß er in Amerika nicht begraben werden wollte. Aber auch nicht in Deutschland. Darum ist er in die Schweiz gegangen – nicht um dort zu leben, sondern um dort zu sterben. Auch ich empfand diese Trauer um die verlorenen Ideale Amerikas. Ich bin dann 1951 weg, hatte aber eigentlich nicht die Absicht, für immer in Europa zu bleiben. Das hat sich dann ergeben.

Als sie in die USA kamen, wollten sie unbedingt in die Armee eintreten – was für Sie als Flüchtling und Kommunistensympathisant nicht einfach war. Dabei ging es Ihnen ja nicht nur darum, gegen die Nazis zu Felde zu ziehen, sondern Sie waren begeistert vom Militär. Ziemlich schrecklich.

Wieso schrecklich? Es war die erste Chance, die ich hatte, mich gegen die Nazis zu wehren. Ich hatte plötzlich ein Gewehr in der Hand und war Teil einer Truppe, die kämpfen würde. Fand ich sehr, sehr nützlich und gut. Ich bin auch jetzt kein Pazifist. Als es zum Beispiel um Saddam Hussein ging, war ich nicht auf der Seite der Kriegsgegner. Und heut würde ich in einem ähnlichen Fall sagen: Gegen Faschisten muß man auch mit dem Gewehr in der Hand kämpfen.

Wenn wir schon mal bei der aktuellen Politik sind: Beschäftigt Sie die Lage in Ex-Jugoslawien?

Manchmal. Weil ich es so absolut blöd finde, auf beiden Seiten: bei den Muslims – und bei den anderen erst recht – daß sie das Erbe von Tito auf diese Weise verpißt haben. Der Nationalismus ist ein Fluch – nicht nur in Deutschland.

Stichwort Nationalismus: bei den Amerikanern hat er sie damals nicht gestört.

Stolz auf sein Volk ist ja nichts Schlechtes. Aber wenn Nationalgefühl zum Ku-Klux-Klan wird, bin ich sehr dagegen. Ich kann durchaus verstehen, wenn einer stolz ist, ein Deutscher zu sein. Auch wenn es bloßer Zufall ist, daß sein Vater und seine Mutter in Deutschland lebten, als sie miteinander gevögelt haben. Aber wenn daraus Nazismus wird und Faschismus und andere Leute verprügelt und verbrannt werden, bin ich sehr dagegen. Das ist eine üble Ausartung von an sich berechtigten Gefühlen. Für die Feinde der Demokratie darf es dann auch keine Demokratie geben.

Meinen Sie das ernst?

Wenn demokratische Gepflogenheiten zum Selbstmord führen, bin ich dagegen. Solch demokratische Gepflogenheiten mag ich nicht. Sonst kommen die Faschisten und sperren dich ins KZ oder prügeln dich zu Tode. Da muß man vorher handeln. Und wenn die Faschisten mal mitgekriegt haben, daß ihnen die Schädel eingeschlagen werden – zuerst! –, dann werden sie aufhören oder gar nicht erst anfangen. Das Gespräch führten

Thomas Schmid und Bascha Mika