„Die Ehefrau muß unberührt sein“

■ Konflikt zwischen zwei Kulturen: Viele Türkinnen können sich nicht vorstellen, ohne Eheversprechen mit einem Mann zu schlafen

taz: Sie sind in Berlin mit zwei Kulturen groß geworden. Zu Hause zählten traditionelle türkische Normen und Werte, in der Schule und Freizeit ging es modern und aufgeklärt zu. Waren Sie nicht neidisch auf die gleichaltrigen deutschen Mädchen und deren Freiheiten?

Ayshe Y.*: Als ich 14, 15 Jahre alt war, waren viele meiner deutschen Freundinnen sehr stolz darauf, daß sie schon Geschlechtsverkehr hatten. Ich hatte oft das Gefühl, daß sie es gemacht haben, um älter zu sein. Ich wollte das nicht und war deshalb auch nicht neidisch auf sie. Ich wußte ziemlich genau, wo meine Grenzen sind.

Konnten Sie sich vorstellen, einfach so mit einem Mann zu schlafen, oder war die Hochzeit Bedingung?

Ich wollte nur mit einem Mann schlafen, den ich ihn liebe und von dem ich überzeugt bin, daß er mich liebt, und wir uns eine lange Beziehung vorstellen können. Die Hochzeit war nicht Bedingung, aber ich bin davon ausgegangen, daß ich den Mann irgendwann später auch heiraten werde. Ich bin mit den türkischen Werten erzogen und hänge irgendwie daran.

Wie standen Ihre Eltern zu dieser Frage?

Meine Muter hat natürlich immer darauf bestanden, daß ich damit warte, bis ich verheiratet bin. Meinem Vater hätte es auch nicht gefallen, aber er hätte mich deshalb nicht verstoßen. Die vielen Jahre, die er hier ist, haben offensichtlich etwas gebracht. Er sieht das viel lockerer als meine älteren Brüder, ich bin das einzige Mädchen und das Nesthäkchen der Familie. Meine Brüder stecken in einem totalen Zwiespalt. Das schlimmste für sie wäre, wenn die Nachbarn und Freunde es erfahren würden. Die Tratscherei kann eine türkische Familie zugrunde richten.

Denken die türkischen Mädchen in Ihrem Bekanntenkreis auch so wie Sie?

Ich weiß von etlichen Mädchen, die zur Keuschheit erzogen worden sind, daß sie heimlich mit ihren Freunden geschlafen haben und zum Teil auch schwanger geworden sind. Ich glaube nicht, daß noch viele unverheiratete Frauen in meinen Alter Jungfrau sind.

Und wie halten es die in Berlin lebenden türkischen jungen Männer mit Sex und Ehe? Sie vögeln doch bestimmt genauso gern wie ihre deutschen Altersgenossen?

Die sind noch viel extremer. Bei den deutschen Mädchen machen sie sich überhaupt keine Gedanken, die werden akzeptiert, wie sie sind. Bei den türkischen Mädchen testen sie, wie weit sie gehen können: Schläft sie mit mir oder nicht. Türkische Mädchen, die noch spätabends unterwegs sind, rauchen, trinken, tanzen und sich amüsieren, imponieren ihnen besonders. Aber sie betonen auch immer, ihre Schwester dürfte das nicht machen. Wenn sie merken, daß die Frau sie nicht in die Schranken weist, kommen sie mit der Tour: Wir leben in Deutschland, das einzige, was zählt, ist die Liebe, alles andere ist unwichtig. Sie finden es ganz toll, wenn die Türkinnen frei und locker sind, aber heiraten wollen sie dann doch lieber eine, die noch nichts mit einem anderen Mann gehabt hat. So nach dem Motto: Ich bin Osmane und kann mit es mit allen Mädchen treiben, aber meine eigene Frau hat gefälligst unschuldig zu sein. Und wenn es nicht so ist, darf es zumindest nicht bekannt werden.

Wie kam es in Ihrem Fall heraus?

Meine Familie hat es durch meine Inhaftierung erfahren, nachdem ich auf meinen ehemaligen Freund eingestochen hatte. Und der hat es nach der Tat natürlich auch kräftig in seinem Bekanntenkreis verbreitet.

Nachdem Ihr Freund mit Ihnen geschlafen hat, hat er Sie zum Frauenarzt geschleift. Warum?

Er hat behauptet, nicht er habe mich entjungfert, sondern das sei schon bei einer Jahre zurückliegenden „versuchten“ Vergewaltigung in der Türkei geschehen. Er hat gehofft, daß mein Frauenarzt das bestätigt. Aber der hatte im Mai 1993, als ich das letzte Mal bei ihm war, zum Glück notiert, daß ich da noch Jungfrau war.

Wie hat der Arzt auf das Anliegen Ihres Freundes reagiert?

Er war sehr sauer und hat ihm gründlich die Meinung gesagt.

Was bedeutet das alles für Ihre Zukunft?

Irgendwie beschämt mich das alles. In der Haft war ich völlig fertig und wollte Selbstmord begehen. Ich kann nicht mehr so sein wie vorher, weil es in meinem Bekanntenkreis alle wissen. Seit das passiert ist, schränken mich meine Brüder auch viel mehr ein. Interview: Plutonia Plarre

* Name von der Red. geändert