■ Beitrittsdrama statt Wahlkampf
: Wiener Burgtheater

Der Wahlkampf in den Ländern der Europäischen Union ist ein routinemäßiger Vorgang: ein gehöriges Quentchen Fremdenangst, etwas Heimatgefühl und gelegentliche Ansätze altbekannter Parteiprogramme, die nun im größeren Rahmen Europas verwirklicht werden sollen, genügen. Größte Sorge scheint zu sein, daß sich an diesen Wahlen zum Europaparlament nur wenige Bürger beteiligen. Ansonsten laufen diese Wahlen nach dem üblichen Ritual ab, sie zählen zum politischen Alltag, sie haben kein Geheimnis.

Anders die Vorbereitungen für den 12. Juni in Österreich. An diesem Tag stellt sich das Land dem Referendum, das über den Beitritt oder die Verweigerung zur Europäischen Union bestimmen wird. Damit erreicht eine Staatsoperette den Höhepunkt, die sich seit Beginn der Beitrittsverhandlungen Anfang vorigen Jahres ins Hysterische und fast schon Groteske gesteigert hat.

Für die Österreicher geht es darum, über die Aufnahme in eine Gemeinschaft zu befinden, die zugleich dämonisiert und verklärt wird. Ein Land, das plötzlich Nation sein will, bekommt Anschlußprobleme und Existenzängste. Seit Monaten beherrscht die Debatte pro oder kontra Brüssel jeden Wirtshaustisch. Rationale Argumente zählen wenig. Das Referendum wird inszeniert wie eine Premiere am Burgtheater. Pathos und Weltschmerz sind die treibenden Kräfte.

Die Regierungsparteien der großen Koalition aus Sozialdemokraten und Christdemokraten haben das Gefühl der Verunsicherung gefördert. Sie wollten den Beitritt außer Frage stellen und machten sich eben dadurch suspekt. Raunzende, mißtrauische Wähler bedenken die teure Werbekampagne der Regierung mit Spott und Hohn. Jedermann sieht die unbeholfenen Pro-Argumente als das, was sie sind: Manipulation. Wer die für das Land wichtigste Frage im ausgehenden Jahrhundert entpolitisieren will, macht sich verdächtig. Wenn Kanzler, Außenminister und Bundespräsident schon voreilig darum raufen, wer denn nun als Prominentester die Unterschrift unter den EU- Vertrag setzen darf, verstärkt sie die Irritation.

Im Vergleich wirkt da die Nein-Kampagne höchst unterhaltend. Mit Halbwahrheiten, Vorurteilen und auch harten Fakten kämpfen die rechtsextreme FPÖ, die auf Isolation eingeschworenen Grünen und ein buntes Boulevardblatt um Stimmen gegen die EU. Da wird Europa zum feindlichen Ausland, das den Österreichern den Goldschatz stehlen, die Almen veröden und die Identität rauben will.

Im Vergleich zu den Europawahlen ist das Referendum in Österreich ein echtes Drama, das niemanden kaltläßt. Über Unbekanntes kann man in Kakanien am fantastischsten fabulieren. Norbert Meier

Der Autor ist Korrespondent der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ in Brüssel