Blaues Blut im Wahlkampf der PDS

■ Der Spitzenmann der sächsischen PDS für den Bundestag ist ein Urenkel Bismarcks / In Einsiedel kommt Graf Einsiedel auf Wahlkampftournee gut an

Einsiedel (taz) – Einsiedel liegt im Wald. Ein Städtchen bei Chemnitz, mit 3.200 Menschen, Brauerei, Trinkwassertalsperre und Seniorenklub. Am 5. März 1945 wurde der Ort von den Westalliierten bombardiert. Danach stand kein Haus mehr. Die heute einundachtzigjährige Toni Weißbach mußte ihre Freundin und deren vier Kinder in einem Massengrab auf dem Kirchhügel bestatten, und sie war eine der Frauen, die mit dem Ziegelputzen und Neuaufbau begannen.

Einsiedel ist Graf. 72 Jahre alt, Urenkel des „Eisernen Kanzlers“ und Reichsgründers Otto von Bismarck, seit drei Wochen Spitzenkandidat der sächsischen PDS für die Bundestagswahl. Als er vor 62 Jahren mit den Pfadfindern unterwegs war, erinnert sich der Graf, sei er auch durch Einsiedel gewandert. Ob er gar mit dem Ort verwandt sei, das wisse er nicht. „Ich habe die Familiengeschichte nicht so genau gelesen, das muß ich mal nachholen.“

Dafür wird Heinrich Graf von Einsiedel wohl die Zeit fehlen. Seit sich die sächsischen Genossen den parteilosen Altlinken aus Bayern zum Anführer ihrer bunten Liste gewählt haben, tourt er ohne Pause durchs Land. Einsiedel in Einsiedel ist nur eine Station am Rande. Am Vortag hatte er mit der sozialdemokratischen Plattform der PDS über Stalinismus diskutiert, nächsten Mittwoch will er mit Gysi in Dresden auftreten.

Unterm roten PDS-Sonnenschirm wünscht Toni Weißbach den Genossen einen guten Tag, dann wird sie dezent auf diesen hageren, bärtigen Mann im hellen Anzug hingewiesen. Ein Freudenruf, dann zieht sich die kleine Frau den langen Grafen heran: „Ein echter von Einsiedel bei uns, da muß ich Sie erst mal umarmen. Ich habe schon viel von Ihnen gelesen.“ Der Spitzenkandidat hat mit dieser Herzlichkeit keine Probleme. „Wie fühlt man sich denn als Graf?“ möchte eine junge Frau wissen. „Ach, wissen Sie, das ist doch nur ein Name.“ Auf dem Wahlparteitag in Löbau hatte von Einsiedel sich kokett als „Grufti aus dem adligen Mausoleum“ bezeichnet.

Heinrich Graf von Einsiedel macht Mut mit seiner Biographie, und er macht Mut zur Biographie. Damit ist er bei der sächsischen PDS, die sich immer wieder zwischen Reformern und Altkadern aufzureiben droht, genau richtig. Der Graf war Jagdflieger in der faschistischen Wehrmacht, wurde 1942 bei Stalingrad abgeschossen und kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1943 wurde er Vizepräsident des Nationalkomitees Freies Deutschland. Nach der Befreiung vom Faschismus lebte der gebürtige Berliner zunächst in der sowjetischen Besatzungszone. Ein Abwerbeversuch durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD und Auseinandersetzungen innerhalb der SED trieben ihn im Dezember 1948 in den Westen. Dort arbeitete er als Verkaufsleiter für Elektrogeräte und als Schriftsteller. In die „bunte Liste“ wurde er von Gregor Gysi und Lothar Bisky geholt.

Was Einsiedel über das stalinistische System, die „faschistoiden Tendenzen“ in der DDR zu sagen hat, wird nicht jedem PDS- Mitglied gefallen. Die Geschichtsdarstellung der Kommunistischen Plattform in der PDS verurteilt er als „fast schon so schlimm wie die Auschwitzlüge“. Doch der Graf tritt zugleich vehement gegen die „Heuchelei“ an, mit der „Millionen Menschen im Osten ausgegrenzt werden“. Von einem „einfachen Grenzsoldaten“ würde heute verlangt, er hätte den Gehorsam verweigern müssen. „Aber die Nazigeneräle, die Hitler bis in die Reichskanzlei gefolgt sind und dann die Bundeswehr aufgebaut haben, die wußten auch nicht, wann man nicht mehr gehorcht.“ Wenn man den Maßstab, der heute für die SED gilt, 1945 an die Nazis angelegt hätte, dann, so der einstige Offizier, hätten Hunderttausende für Jahre hinter Gitter gehört. Einsiedel fordert deshalb für seine neuen GenossInnen auch Amnestie: „Sogar nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte es eine Amnestie gegeben. In der deutschen Geschichte war sie nie nötiger als jetzt.“

Nach einer Wahlkampfstunde am Straßenrand steigt der umgängliche Graf wieder ins Auto. Seinen Einsiedlern hat er bestätigt, daß die „PDS nicht die Fortsetzung der SED mit anderen Mitteln“ sei. Ein parteiloser Münchener an der Spitze, die parteilose, beim Bündnis 90 ausgestiegene Christina Schenk auf Platz 2, die parteilose PDS-Bundestagsabgeordnete Barbara Höll auf Platz 3: Gysis bunte Liste im größten Landesverband der PDS ist in der Tat über den Vorwurf erhaben, Altstalinisten in den Bundestag hieven zu wollen. Detlef Krell