■ Der Streit um das Gesicht des künftigen Europa
: „Abendländische“ versus euro-mediterrane Konzeption

Kleingehäckselt werden sich dem europäischen Parlament, den anderen europäischen Institutionen und vor allem den europäischen BürgerInnen in den nächsten Jahren wenigstens drei große Fragen stellen: In welcher europäischen Verfassung leben wir, in welcher wollen wir leben; brauchen wir tatsächlich eine gemeinsame Wirtschaftspolitik und Währung und wenn ja, welche; welche Grenzen strebt Europa an und welche hat es, wie sehen sie aus? Auch wenn der einzige klar definierte Rahmen für die Beantwortung dieser Fragen die Europäische Union ist – im Moment ist freilich unklar, wie weit er demnächst reicht –, werden sie nicht nur hier gestellt.

In den Diskussionen über die Grenzen Europas zeichnen sich zwei Konzeptionen ab, die über kurz oder lang in offenen Widerspruch geraten werden und schon heute hinter den Differenzen über die Politik gegenüber der Neuaufteilung Jugoslawiens stecken: eine kleineuropäische Konzeption, die die Europäische Union auf die katholisch-protestantischen Länder beschränken will, und eine großeuropäische, die eher in Räumen denkt und nach Wegen sucht, um alle Mittelmeerländer und die Länder westlich der Russischen Föderation der Europäischen Union zu assoziieren und möglichst eng mit ihr zu verbinden.

Tatsächlich hatte sich die EG vor dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums bei ihren Assoziationsverträgen und den Vorverhandlungen über einen Beitritt der Türkei und mit der Aufnahme Griechenlands eher an der zweiten Konzeption orientiert. Das entsprach auch dem Vorrang wirtschaftspolitischer Überlegungen innerhalb der EG. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums aber wurde schlagartig die kleineuropäische Lösung aktuell, von der man annehmen kann, daß sie sich im Verlauf von einem Jahrzehnt verwirklichen lassen wird.

In dieser „abendländischen“ Sicht bildet das Mittelmeer eine Grenze Europas, wird „der Balkan“ zum fremdartigen, undurchschaubaren und tief zerklüfteten Gebilde, erscheint es fast schon als Fehler, Griechenland in die EG aufgenommen zu haben, ist die Türkei nur eine beachtliche außen- und militärpolitische Größe und werden die ehemaligen westlichen Republiken der Sowjetunion, ganz abgesehen von ihren eigenen Bestrebungen, dem russischen Einflußbereich zugeschlagen.

Diese Sicht folgt mehr oder weniger ausdrücklich den Analysen und Prognosen Samuel P. Huntingtons. Danach werden sich die zukünftigen Auseinandersetzungen in der Welt gemäß den religiösen und kulturellen Traditionen entfalten. „Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken sind in der Geschichte ein Teil Europas und der westlichen Kultur gewesen und haben sich als solcher gefühlt. Wir reden von einer Trennungslinie, die fast ausschließlich entlang verschiedener Religionen läuft. Man muß einsehen, daß Europa dort endet, wo die moslemische und die orthodoxe Welt beginnt“, meinte Huntington in einem Interview mit der taz (18.5.94). So werden die historischen Strukturgrenzen, die den europäischen Raum durchziehen, zu harten politischen Grenzen und müssen als solche befestigt werden. Andererseits erscheint es da fast natürlich, daß existierende politische Grenzen, wo sie mit diesen Strukturgrenzen nicht übereinstimmen, wie im früheren Jugoslawien gewaltsam revidiert werden. Die europäischen Muslime aber werden zu Einsprengseln und Überbleibseln der osmanischen Eroberungen, für die in Europa im Grunde kein Platz ist und höchstens in gewissen Reservate gesichert werden mögen.

So oder so wird die Europäische Union durch bestehende Staaten gebildet. Die Grenzen der Mitgliedsstaaten bilden die Grenzen der Europäischen Union, heute nach Osten die Grenzen der Bundesrepublik vor allem, morgen vielleicht zusätzlich die Grenzen Schwedens, Finnlands und Österreichs und übermorgen dann die Grenzen der baltischen Staaten, Polens, der Slowakei und Ungarns.

Joscha Schmierer

Wie immer die Europäische Union sich erweitern wird, in Fragen der Geltung ihrer Verfassung, ihrer vertraglichen und völkerrechtlichen Vereinbarungen und der Regelung der inneren Angelegenheiten müssen diese Grenzen fest sein. Die Menschen- und Bürgerrechte können nicht hier ein wenig mehr und dort ein wenig weniger gelten und äußere Einmischung oder gewaltsame Infragestellung der Grenzen muß im Westen wie im Osten gleichermaßen unterbunden werden. In diesem Sinne braucht die europäische Union harte Grenzen. Entscheidend aber ist, ob diese politisch festen Grenzen, wirtschaftlich und kulturrell porös oder geschlossen gedacht werden und wirken.

Die klein- und die großeuropäische Konzeption unterscheiden sich nun nicht nur darin, wo sich diese festen politischen Grenzen denken lassen, sondern auch darin, daß die eine zu geschlossenen Grenzen neigt, während die andere aktuelle und zuküntige Grenzen in beiden Richtungen durchlässig gestalten will. Während die „abendländische“ Konzeption mit religiöser Aufrüstung auf die islamische und orthodoxe Reideologisierung zu antworten versucht, wird die „großeuropäisch-mediterrane“ Konzeption weiterhin auf Modernisierung und Säkularisierung, auf die Ausbildung und Geltung postkonventioneller Werte setzen, die die historischen Strukturgrenzen auflockern und überwinden. Diese konzeptionellen Differenzen sind keine ausgeklügelte Erfindung oder höchstens für die ferne Zukunft relevant. Sie prägen bereits heute die politischen Entscheidungen, etwa gegenüber Rußland. Wer zur ersten Konzeption neigt, dem wird es egal sein, wie die Türkei mit den Kurden umspringt und die Menschenrechte mißachtet und der wird an ihr bestenfalls als Eckpfeiler der Nato interessiert sein. Gegenüber Rußland wird er an Appeasement auf Kosten des „nahen Auslands“ denken und im früheren Jugoslawien wird ihn höchstens interessieren, daß die Adriaküste nicht in serbische Hände fällt. Wirtschaftspolitisch neigt das „abendländische“ Europa zu Protektionismus, neigt es dazu, sich erst gegen fremde Waren zu verschließen, um sich in der Folge um so mehr gegen Wanderungsbewegungen fremder Menschen abzuschotten. Diese Politik kann sich auch gegen Anwärter auf ein katholisch-protestantisches Europa richten, wird aber ihre Hauptkraft gegen die islamischen Anrainer der Dritten Welt und die orthodoxe Zwischenwelt der Europäischen Union und Rußlands richten.

Man kann sich lautstark über wachsenden äußeren Nationalismus, Reideologisierung und das Erstarken des islamischen Fundamentalismus beklagen. Solange die Politik der Europäischen Union weitgehend an den Interessen realexistierender Lobbies orientiert bleibt, statt neue Verbindungslinien in einem zerrissenen, aber nicht mehr gespaltenen Europa zu schaffen, werden die Reaktionen so abstoßend sein wie diese Politik. Kann man von anderen Ländern „Europareife“ einfordern und einstweilen im eigenen Fett schmoren wollen? Schon bei der deutschen Vereinigung hat sich die Vorstellung als falsch erwiesen, die einen würden von ihren Folgen nichts merken und die anderen bräuchten nur ihre Früchte zu ernten. Dabei ist die Elbe, verglichen mit den verbliebenen Hindernissen, ein Bach.

Mit den angeschnittenen Fragen ist die europäische Verfassungsdiskussion verknüpft. In der ersten Variante konzentriert sie sich auf institutionelle Regelungen des zwischen- und überstaatlichen Bereichs der Mitgliedsstaaten, in der zweiten dagegen auf die gemeinsamen innerstaatlichen Rechte der Bürgerinnen und Bürger, auf gemeinsame demokratische und rechtsförmige Verfahren und auf die Föderalisierung und Kommunalisierung der Binnenverhältnisse der einzelnen, insbesondere der großen Mitgliedsstaaten und damit insgesamt auch auf die politischen Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder. Sie wird sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten der Bildung einer europäischen Öffentlichkeit über Schulen und Hochschulen etc. mehr befassen als mit der falsch gestellten und deshalb so beliebten Frage nach einem europäischen Bundesstaat oder Staatenbund. Wenn die europäische Integration bisher nicht in einer dieser einfachen Formeln aufgegangen ist, wird sie es in Zukunft noch weniger tun.

Die hier aus den europäischen Debatten extrapolierten Positionen treten sicherlich kaum in reiner Form auf (bei Huntington allerdings schon), sind auch nicht dieser oder jener Parteigruppierung des Europäischen Parlaments zuzuordnen oder mit der Politik bestimmter europäischer Staaten zu identifizieren. Sie liegen aber auf der Hand. – Von ihren ökologischen und bürgerrechtlichen Ausgangspunkten her müßten die europäischen Grünen die zweite Perspektive wählen, während die europäischen Christdemokraten und Konservativen sich als gemäßigte Vertreter der ersten Konzeption entpuppen dürften, deren extreme Verfechter die Neofaschisten (die Neonazis bleiben ein deutscher Sonderfall) schon sind. Sozialdemokraten übersehen derlei Fragen und lieben das Ungefähre. Joscha Schmierer