Lernen nach Lust und Laune

■ Deutschlands freieste Schule in der Honigfabrik wird 11 Jahre alt Von Maja Abu Saman

Sandra geht seit Jahren erstmals wieder regelmäßig zur Schule, „regelmäßig einmal die Woche“, erzählt sie freimütig. Die 17jährige besucht seit einigen Monaten Deutschlands freieste Schule in der Wilhelmsburger „Honigfabrik“, wo es weder Stundenplan, feste Anfangszeiten noch Zensuren gibt. Jeder kann kommen und gehen, wann er will. „Gelernt wird nach dem Lustprinzip“ sagt Nicola Schwalbe. Sie gehört zu den Mitbegründern des Schulversuchs, der anfangs mit Bundesmitteln gefördert wurde und jetzt vor allem aus der Hamburger Staatskasse finanziert wird.

Seit genau elf Jahren versucht ein kleines Team von Pädagogen, „Schulverweigern“ eine neue Chance zu geben. Mit einem großen Fest soll der „krumme Geburtstag“ am morgigen Mittwoch gefeiert werden. „Wir wollten damals nicht länger nur theoretisch über pädagogische Probleme sprechen, sondern wollten unsere Vorstellungen von zeitgemäßer Pädagogik in einem sozialen Brennpunkt wie Hamburg-Wilhelmsburg umsetzen“, sagt der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Dressler. Trotz vieler Schwierigkeiten „sind wir beharrlich bei der Idee geblieben, eine Schule ohne jeden Druck und Zwang zu machen, in der Anderssein vorkommen darf.“

Bis jetzt ist die Freie Schule in der „Honigfabrik“ bundesweit einmalig geblieben. Dabei gibt es immer mehr Schüler, die in den herkömmlichen Schulen scheitern „und aus dem System rausfliegen“. Schule, so Dressler, sei Disziplinaranstalt geblieben und habe keine Antworten auf die Probleme der 90er Jahre gefunden.

Ohne Hauptschulabschluß ging auch Sandra vor mehr als einem halben Jahr von der Realschule ab. Sie galt als notorische Schulschwänzerin, die schon mal mehr als fünf Monate hintereinander fehlte. „Ich bin Schwimmen gegangen, hing in der Stadt rum. Spaß haben mir in der Schule nur die Pausen gemacht“, sagt sie.

Weil der Freund arbeitslos ist und „es morgens im Bett so gemütlich ist“, schafft sie es auch heute kaum, mehr als einmal pro Woche in die Schule zu kommen. Dann allerdings „lern ich richtig, schnapp mir Bücher und frag 'nen Lehrer, wenn ich was wissen will“. Einen Schulabschluß kriegt sie diesmal jetzt, davon ist Sandra felsenfest überzeugt.

Knapp die Hälfte aller „freien Schüler“ schaffen den Hauptschulabschluß, andere landen in anderen Einrichtungen oder „wieder auf der Straße“, so Nicola Schwalbe. Wichtig sei vor allem, daß die Jugendlichen, die meist am Rande der Gesellschaft leben, Selbstvertrauen gewinnen und im Idealfall sogar Spaß am Lernen finden. Wieviele Jugendliche eines Jahrganges ohne Schulabschluß bleiben, ist in der Hamburger Schulbehörde nicht bekannt, die einzig greifbare Zahl kommt von der Schülerhilfe und stammt aus dem Schuljahr 1991/92: „In 1432 Fällen wurde die Dienststelle wegen unentschuldigten Fehlens über einen längeren Zeitraum eingeschaltet“, hieß es.

Einer dieser „Fälle“ war auch der 16jährige Ihsan. Ihm gefällt in der Honigfabrik vor allem, „daß ich hier machen kann, was ich will“. Zuvor flog er von fünf Schulen, weil er sich mit den Lehrern anlegte. „Das sind alles Spießer“, meint Ihsan, der sich „Toni Montana“ nennt. Immer wieder erhielt er Einträge ins Klassenbuch und eine „sechs für schlechtes Benehmen, das ist doch von gestern“. Als er eine Rauchbombe in der Klasse zündete und einen Wecker im vernagelten Pult versteckte, war seine Schulkarriere zunächst beendet. „Als ich herkam, hab ich zunächst gar nicht gerafft, daß hier wirklich alles freiwillig ist.“

Das gefällt auch der 20jährigen Rebekka, für die Leistung schon vorher kein Problem war, „das waren die steifen Lehrer und manchmal auch die anderen Schüler“. Der Druck war für sie zeitweilig so stark, daß sie mehr als vier Jahre gar nicht zur Schule ging. Jetzt will sie Abitur machen, „hier schaff ich das, denn hier gibt es keine starren Regeln, hier brodelt das Leben.“

Und nicht nur das. Wichtiger Bestandteil der „Angebotsschule“ ist eine gut eingerichtete Küche, in der die Schüler mittags selbst kochen und für einen eigenen Party-Service arbeiten.