„Keine Kinderspielplätze in Bitterfeld“

■ Eine Sanierung der vermutlich 250.000 Altlasten ist oft notwendig, aber wie?

Als in Dortmund-Dorstfeld in den siebziger Jahren die ersten Baugruben für neue Einfamilienhäuser ausgehoben wurden, wußten die Stadtverwaltungen schon um die Geschichte des Standortes: Eine Kokerei hatte jahrzehntelang auf dem Gelände gestanden. Die Industriebrache sollte mit einer Wohnsiedlung zu neuem Leben erweckt werden.

Die Gefährdung, die von der Brache ausgeht, ignorierten die Behörden souverän: Kokereigelände sind notorische Verseucher mit krebserregenden polizyklischen aromatisierten Kohlenwasserstoffen. Ergebnis des wohl bekanntesten bundesdeutschen Altlastenskandals: 500 Menschen mußten umgesiedelt werden, der Boden mußte ausgetauscht und Entschädigungen mußten gezahlt werden. Die Gesamtkosten der seit 1987 laufenden Sanierung werden über 100 Millionen Mark erreichen. „Und das Gelände ist so stigmatisiert, daß sich auch auf den sanierten Flächen niemand ansiedeln mag“, so Thomas Lenius vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND).

Dorstfeld ist nur die Spitze des Eisberges. Die BürgerInnen des alten Industrielandes Deutschland leben, so vermuten Kenner, inmitten von rund 250.000 Altlasten. 140.000 davon, also etwa 55 Prozent, sind inzwischen identifiziert. Rund zehn Prozent gelten als gefährlich. Die Wirtschaftsminister von Bund und Ländern schätzten die Sanierungkosten schon 1991 auf 52 bis 390 Milliarden Mark.

Wann steht die Gefährdung fest?

Bei der Suche ist man inzwischen in den neuen Ländern sogar weiter als in den alten. In der alten Bundesrepublik sind erst 70.000 der wahrscheinlich 160.000 Flächen registriert. In den fünf neuen Ländern sind 70.000 von geschätzten knapp 90.000 Altlastenflächen bekannt. Der wichtigste Grund: Alteigentümer und Investoren wollen Klarheit über die finanziellen Risiken, die ihr Grundbesitz in der Ex- DDR birgt.

Die Registrierung einer möglichen Altlastenfläche heißt nicht etwa, daß das Gefährdungspotential erkannt wäre. Sie bezieht sich vielmehr nur darauf, daß sich aus vorhandenen Akten ein Verdacht ergibt und eine Kartierung der Verdachtsfläche erfolgt ist.

Erst im nächsten Schritt folgen detaillierte Untersuchungen sowie Gutachten, die dann die drohende Gefahr beschreiben. Und genau deshalb haben Eigentümer und Behörden häufig genug ein elementares Interesse, daß möglichst lange und kontrovers geprüft wird. Ist nämlich die Gefährdung der Bevölkerung erst einmal offiziell erkannt, verpflichtet sie das Polizei- und Ordnungsrecht zum Handeln. „Da steht dann der Staatsanwalt in der Amtsstube“, wie dies Volker Franzius, Altlastenexperte des Umweltbundesamtes ausdrückt.

Bei aktenkundigen Gefahren müssen die Behörden und die Eigner sofort etwas unternehmen. Aber was? Den Standort einfach nur sichern oder gleich richtig sanieren? Franzius betont, es sei nicht unbedingt böser Wille, wenn sich die Verantwortlichen zunächst mal zum Sichern entschließen. „Gar nicht so selten ist wirklich kein Verfahren bekannt, mit dem der konkreten Altlast beizukommen ist“, weiß auch Lenius vom BUND. In Stadtallendorf, einer hessischen Kleinstadt, an deren Rand während des Dritten Reiches eine gigantische Munitionsfabrik betrieben wurde, überlege ein Planungsbüro schon seit 1989, wie die Sanierung weitergehen könne.

Richtig kompliziert ist die Frage, was denn das Ziel einer solchen Sanierung sein soll: Die Industrie möchte möglichst schnell bundeseinheitliche Vorgaben für die Sanierungsziele, und sie möchte aus Kostengründen eine sogenannte nutzungsorientierte Sanierung. Das heißt, ein Gelände, auf dem später Wohnhäuser und Kindergärten angesiedelt werden sollen, muß tipptopp entgiftet werden, während an eine Fläche, auf der wieder ein Industriebetrieb stehen soll, weniger hohe Anforderungen gestellt werden. Umweltschützer hingegen meinen, daß jedes Gelände prinzipiell so saniert werden soll, daß dort ein Kindergarten stehen kann.

Im letzten Entwurf des Bundesbodenschutzgesetz wird schon auf die nutzungsorientierte Sanierung gesetzt. „Sie werden kaum auf einem alten Industriegelände später biologischen Landbau betreiben können“, faßt Franzius den Grundgedanken des Konzepts zusammen. Oder:„Keine Kinderspielplätze in Bitterfeld.“ Hermann-Josef Tenhagen