Short Stories from America
: Alles null und nichtig

■ Amerikanische Probleme zählen nicht mehr – seit, als, bis oder weil Jackie starb

Eins möchte ich zur Zeit in Amerika um keinen Preis sein: Publizist. Publizisten rackern sich Tag und Nacht ab, um zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Illusionen zu erwecken, und jetzt müssen viele erleben, wie die Arbeit von Monaten, ja manchmal von Jahren den Bach runtergeht. Seit Jackie starb.

Man muß sich mal die Gefühle der Leute in der Public-Relations-Abteilung der Food and Drug Administration vorstellen. Gerade haben sie RU-486 freigegeben, das umstrittene Abtreibungsmittel, das unter Reagan und Bush verboten war – da muß Jackie den Löffel abgeben. Der große Augenblick der FDA, auf den sie alle gewartet hatten – Aufstand der christlichen Rechten, Blockaden vor den FDA-Büros, Blut auf ihren Akten und dann endlich, nach all den aufreibenden Jahren in der Regierungsbürokratie, endlich, endlich die Talkshows – alles dahin. Gerade wollten sie ihre Karrieren krönen mit Geschwafel über die Beendigung embryonischen Lebens – da beendete Jackie das ihre. Wer bloß Babys umbringt, kann da nicht mithalten.

Amerika ist untröstlich. Die Presse kennt kein anderes Thema mehr. Wer liefert uns jetzt die entscheidenden Informationen, zum Beispiel über Hüte und Sonnenbrillen? Und das zu Sommeranfang! Als JFK 1960 die Präsidentschaftswahlen gewann, reagierte meine Mutter so: Immerhin brauchen wir jetzt nicht mehr den Modetips von Mamie Eisenhower zu folgen. Meine Mutter hatte zweimal für Adlai Stevenson gegen Eisenhower gestimmt – aus politischen Gründen, hatte ich geglaubt. Jetzt begreife ich zum erstenmal, daß sie einfach nicht mehr wie ein Fenstervorhang rumlaufen wollte. Wären Jackie – und auch Audrey Hepburn – nicht gestorben, wäre mir das gar nicht aufgefallen. Denn jetzt müssen wir den nackten Tatsachen einer Modekrise ins Auge sehen: Hillary ist unberechenbar und Tipper Gore sieht wie das Michelinmännchen nach einer Woche Slim-Fast aus. Die Oberste Richterin Ruth Bader Ginsberg trägt die abgelegten Kleider von Minnie Mouse, und Justizministerin Janet Reno die von Al Gore. O Jackie, was sollen wir ohne dich tun?

Als sie starb, wollte ich mir gerade eine neue Sonnenbrille kaufen; jetzt fehlt mir ihre Beratung. Soll ich mich auf die Calvin- Klein-Position zurückziehen oder mich eher für East-Village-Techno-Punk entscheiden? Aber aufgeschmissen sind nicht nur ich und die FDA-Publizisten, sondern auch ein großer Teil der New Yorker Stadtverwaltung, angefangen mit den Schulhausmeistern.

Die Männer, die hier die Schulen reinigen, kommen nicht oft in die Zeitung. Nach Jahrzehnten im Orkus der Vergessenheit hatten sie vor ein paar Wochen ihren großen Durchbruch, als der Skandal um die Korruption der Hausmeister losbrach. Überhöhte Gehälter, bis zu 80.000 Dollar jährlich, für Jobs, in denen sie nur halbtags arbeiteten; Arbeitsplatzbeschreibungen, wonach sie die Cafeterias nur einmal wöchentlich aufzuwischen brauchten und sich weigern konnten, undichte Fenster zu reparieren oder Wände anzustreichen, die höher waren als drei Meter; erschwerte Zulassungsbestimmungen, so daß sie Jobs an Verwandte weitergeben und rassische Minderheiten diskriminieren konnten – all das kam in die Presse. Und wenn dieser Ruhm auch schimpflich war: Man denke nur daran, wie sich die Mafia in die Presse gebracht hat. Hausmeister – das wäre die Rolle für Al Pacino. Die Hausmeister füllten die Titelseiten der größeren Zeitungen, einen Tag und noch einen – bis Jackie starb. Scheiße auf Schulhausfluren kann da nicht mithalten.

Direkt nach den Hausmeistern kam der Skandal um die Schulgebäude. Anscheinend war das Amt, das für die Verwaltung von New Yorks 1.100 städtischen Schulgebäuden zuständig ist, eine Hochburg der Betrügereien, Bestechungen und Schiebereien. Inspektoren nahmen Geschenke an, wie sie das wohl nennen, und verzichteten dafür auf Berichte über schlechte Wartung und nötige Reparaturen. Das Amt und seine Anwälte nahmen Anerkennungsgesten entgegen – manchmal bis zu 150.000 Dollar – und erteilten dafür Bauaufträge. Auch das gelangte auf die Titelseite der New York Times und verschaffte dem Amt den Ruhm, um den es sich so verzweifelt bemüht hatte. Bis Jackie starb. Wer nur Asbest in Schulhauswänden hinterläßt, kann da nicht mithalten.

Der Skandal bei der New Yorker Jugendbehörde kam als nächstes. Aufgeblähte Gehälter für die höheren Bürokraten scheinen hier das Problem zu sein. Und auch das kam auf die Titelseiten – bis Jackie starb. Bürgermeister Giulianis Lösung für das Problem – Tausende Jobs für Teenager zu streichen – schaffte es ebenfalls auf Seite eins, aber nur einen Tag lang. Weil Jackie starb.

Der Medienfeldzug wegen Mrs. O. war eine schwere Enttäuschung für die New Yorker Polizei, die bis zu ihrem Tod auf einer Pressewelle schwamm. Alle paar Tage wurden Beamte festgenommen, meistens wegen Drogenhandels und weil sie Straßenhändler verprügelt hatten, die nicht mitspielen wollten. Jede Verhaftung erreichte die Seite eins, ein nationaler Skandal. Dann wurden zwei Polizisten angeklagt, weil sie einen Mann umgebracht hatten, der während einer Verhaftung wegen Drogenhandels mit Handschellen gefesselt hilflos auf dem Boden lag. Der untersuchende Arzt vermochte nicht zu erkennen, wie ein Mann in dieser Position das Leben von Polizisten bedrohen konnte. Diese Vertreter des Gesetzes waren reif für nationalen Ruhm. Wer hatte schließlich je etwas von den vier Polizisten in Los Angeles gehört, bevor sie sich Rodney King vornahmen, und die hatten King schließlich nur zusammengeschlagen. Und was macht es, wenn sie diesen Ruhm ihrer Brutalität verdanken; siehe oben. Und Robert De Niro wäre in der Rolle der Polizisten ganz prima. Die Anwälte des Ermordeten hatten angekündigt, sie wollten eine Bundesuntersuchung beantragen. Die Titelzeilen lagen bereit. Dann starb Jackie. Tote schwarze Männer können da nicht mithalten.

Es macht mich sehr traurig, daß die Arbeit so vieler Staatsbediensteter umsonst war, und die Arbeit ihrer Public-Relations- Berater dazu. Nach so vielen Jahren Arbeit hätten sie Seite eins verdient. Ich verzweifle an der Ungerechtigkeit des Lebens, und wenn ich verzweifelt bin, gehe ich gewöhnlich zu Bloomingdales und kaufe mir einen neuen Hut. Aber ohne Jackie bin ich aufgeschmissen. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning