„Bei Alarm Beine in die Hand“

Im litauischen AKW Ignalina reden die Arbeiter russisch, litauisch und ukrainisch durcheinander / Die Computer verstehen nur Englisch  ■ Aus Ignalina Klaus Bachmann

150 Kilometer von der Hauptstadt Vilnius, wo nur noch ab und zu zwischen den Sümpfen und Seen ein Dorf auftaucht, hebt sich plötzlich eine gigantische Silhouette vom nebelgrauen Hintergrund ab – Ignalina, eines der bekanntesten Atomkraftwerke Osteuropas und eines der größten. Am Eingang empfängt uns ein namenloser Sicherheitsbeamter, der sich benimmt, als sei er Humphrey Bogart: wachsam, wortkarg, keinen Widerspruch duldend. Er macht keine Witze, lächelt nicht, gibt knappe Anweisungen: „Keine Fotoapparate, keine Tonbandgeräte.“ Vom Direktor bekommen wir eine Führerin zugeteilt, eine rothaarige, sommersprossige ältere Dame vom „Zentrum für Weiterbildung“. Wir müssen uns zweimal umziehen, dann stapfen wir durch schummrige, mit Folien ausgelegte Gänge in die Innereien des AKW.

Überall hängen russischsprachige Schilder, die etwas verbieten oder befehlen. Es ist stickig und sehr warm. In der halbrunden Steuerzentrale des AKW arbeiten sieben Experten, die miteinander russisch und litauisch sprechen, die Programme auf ihren Bildschirmen aber sind englisch. Eine Art Bahnhofsuhr an der Wand zeigt gerade null Megawatt an. „Der eine Reaktor ist wegen Reparaturarbeiten abgeschaltet, der andere läuft nur im Grundbetrieb“, erklärt unsere Führerin. Einer der Experten erklärt: „Litauen braucht zur Zeit keinen Strom, denn Rußland und Weißrußland zahlen gerade ihre Winterschulden zurück.“ Der Experte – wie alle Angestellten weigert er sich standhaft, seinen Namen zu nennen, obwohl der draußen an der Tür angeschlagen ist – ist selbst russischer Bürger und stammt aus dem sibirischen Tomsk. Daß die Atommeiler zur Zeit keinen Strom produzieren, Ignalina nur als Schaltstation funktioniert, ist schlecht für das Einkommen, erklärt die Führerin. Das sei zwar überdurchschnittlich, aber von der Leistung des AKW abhängig.

Das Reaktorgebäude des zweiten Blocks von Ignalina ist eine riesige Halle. Im Zugangsraum hängen einige zugestaubte grüne und rote Lampen, nicht unähnlich den Warnlampen an westlichen Autobahnbaustellen. Zu unserem Glück leuchten sie grün. „Rot bedeutet Kontaminierung“, verkündet unsere Führerin knapp. In den Hallenboden sind runde Platten eingelassen, als habe man das Oberteil einer Bienenwabe vor sich. Jede Platte, so teilt unsere Führerin mit, verdecke einen Reaktorstab. Aus manchen Platten schießen kleine Fontänen weißen Dampfes. Auf einer steht ein desolater Apparat, der aussieht wie eine Mischung aus einer leeren Gasflasche und einem Rasenmäher: „Da wird etwas gemessen.“ An der Wand hängen vergilbte Plakate aus sowjetischen Zeiten, die das Verhalten im Notfall erklären. Sie beginnen mit der malerischen, aber künstlerisch wenig überzeugenden Darstellung eines Atompilzes und enden mit dem Hinweis, während der Arbeit keinen Alkohol zu trinken. Die wichtigste Grundregel bringt unsere Führerin auf den Punkt: „Wenn es Alarm gibt, heißt es Beine in die Hände nehmen und so schnell wie möglich raus hier.“

Im AKW von Ignalina arbeiten 5.000 Menschen, die meisten leben in der fünf Kilometer entfernten Trabantenstadt Wisaginus. 80 Prozent der Reaktorarbeiter haben inzwischen die litauische Staatsbürgerschaft, und das obwohl ebenfalls 80 Prozent gebürtige Russen sind. Sie haben sich, wie ein Arbeiter erklärt, für Litauen entschieden, weil sie hier wesentlich besser verdienen.

Und Litauen hat ihnen die Entscheidung leicht gemacht – zum Erwerb der litauischen Staatsbürgerschaft genügte der Nachweis, in Litauen vor der Unabhängigkeit gelebt zu haben und eine entsprechende Willenserklärung.

Ignalina erfreut sich im Westen nicht gerade des besten Rufs. Generaldirektor Wiktor Schewaldin gibt zu, es habe in diesem Jahr bereits drei „Zwischenfälle“ gegeben, das Wort „Unfall“ möchte er vermeiden: „Der Reaktor wurde vom Personal außerplanmäßig abgeschaltet.“

Schewaldin, selbst Russe mit litauischem Paß, kommt gerade von Verhandlungen mit Vertretern der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“, die 32 Millionen Ecu zur Modernisierung des AKW durch westliche Consultingfirmen und Energiekonzerne bereitgestellt hat. Die Bank wird direkt die westlichen Firmen bezahlen. Zur Zeit läuft die Ausschreibung für 18 Projekte.

„Wir haben die gleichen Reaktoren wie in Tschernobyl“ gibt Schewaldin zu, „aber man kann nicht auf sie verzichten. Man kann höchstens ein neues Kraftwerk bauen. Das wäre aber teuer. Also müssen wir modernisieren.“ Ignalina ist ein Erbe der Sowjetunion, es produziert vier Fünftel des in Litauen verbrauchten Stroms und exportiert noch gewaltige Mengen nach Weißrußland, zu den baltischen Nachbarn und nach Rußland. Für die eigene Stromversorgung benötigt Litauen bisher 1.200 Megawatt Kraftwerksleistung, jeder der beiden Reaktorblöcke ist allerdings prinzipiell imstande, bis zu 1.500 Megawatt zu produzieren.

Den Stromexport nach Rußland und in die Nachbarstaaten wickelt die staatliche litauische Energiezentrale ab. Sie kauft auch den Brennstoff in Rußland ein, zuletzt mit einem 50-Millionen-Kredit einer Hamburger Bank. Energisch dementiert Schewaldin, daß in seinem Kraftwerk spaltbares Material abhanden kommt, daß in Westeuropa wieder auftaucht und von der Polizei sichergestellt werden muß: „Das sind alles nur Gerüchte. Bisher konnte kein einziges Mal nachgewiesen werden, daß spaltbares Material aus Ignalina herausgeschmuggelt wurde.“