Der Insulaner will Sicherheit

■ Auf der Suche nach der Sicherheit der Mauern und der verlorenen Ordnung: Die deutsche Vereinigung und der Zerfall der Blöcke als Auslöser einer Identitätskrise

Am vergangenen Wochenende hat sich die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse in Berlin mit der „Fiktion von der Sicherheit“ beschäftigt. Der Psychoanalytiker Dr. Klaus Ohm ist Vorstandsmitglied des Berliner Landesverbands.

taz: Die Bundesrepublik ist in einer Umbruchphase und die Menschen ebenfalls. Nach 1989 gab es eine Aufbruchstimmung – die Zukunft war grenzenlos rosig –, jetzt gibt es Katzenjammer. Da sind Hoffnungen kaputtgegangen. Wie schlägt sich das in der Seele nieder?

Klaus Ohm: Den Katzenjammer gibt es nicht nur in Deutschland, der ist ja weltweit. Die großen philosophischen und politischen Systeme, die Eindeutigkeit der Lager, suggerieren Sicherheit. Wenn sie entfallen, entstehen Orientierungslosigkeit, Hilflosigkeit, Leere und Angst. Möglicherweise gibt es Konfrontationen mit archaischen Aggressionen im Innern. Bei manchen Menschen setzt es aber auch Kreativität frei; auch Freude, daß sie sich etwas Neues ausdenken können.

Die Krise als produktiver Prozeß?

Durchaus. So sind beispielsweise die großen sozialen Utopien in solchen Umbruchzeiten entstanden. Als das athenische Imperium zusammenbrach, entstand Platos „Republik“, als das Römische Reich stürzte, schrieb Augustinus den „Gottesstaat“, als der Feudalismus unterging, schrieb Thomas Morus „Utopia“, und als die bürgerliche Welt erodierte, entstand die Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft. Das waren jedesmal Ergebnisse eines gesellschaftlichen Bebens. Je größer die mit gesellschaftlichen Umbrüchen einhergehende Unsicherheit, um so stärker wurde der Wille der Menschen zu einer ungewöhnlichen Sicherheit. Man wollte das Schwindelgefühl loswerden, welches das Gesellschaftsbeben hervorgerufen hatte. Historisch stehen wir in einer solchen Situation. Die Konflikte, die jetzt allerorten nach dem Zusammenbruch der großen Systeme losbrechen, kann man so lesen, daß Menschen dort versuchen, wieder Verhältnisse herzustellen, die sich an alten Ordnungsprinzipien orientieren. Sie wollen das erlebte Chaos wieder in eine Ordnung bringen, die sie kennen – aber so klappt es nicht.

Wie schlägt sich die Unsicherheit individuell nieder?

Mit der Identitätsfindung suchen wir einen fixen Punkt, von dem aus wir unsere Wahrnehmung von Menschen und der Welt sortieren können. Wir schaffen uns diesen fixen Punkt, um das chaotische um uns und in uns in den Bann zu schlagen. Seelische Krankheit oder Gesundheit orientiert sich unter anderem daran, wie starr oder flexibel wir mit unseren Leitbildern und Charakterzügen umgehen. Je größer die seelische Irritation ist, um so mehr neigen wir dazu, in sehr starren Formen zu denken und uns mehr an Vorurteile zu hängen. In Zeiten großer äußerer Verunsicherung ist die Gefahr groß, daß sich das verstärkt.

Begründet das einen Aggressionsschub?

Es ist ja unverkennbar, daß die Gewalttätigkeit um uns zunimmt. Die Zeit des Umbruchs ist eine große Versuchung, nach griffigen Denkmustern zu suchen, die den quälenden Zustand der Unsicherheit beenden könnten. Es wird versucht, die Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Welt unter einen Hut zu bringen – wenn es nicht anders geht, dann auch mit Gewalt. Die rechtsradikalen Ausschreitungen, der gesamte Rechtsruck, sind ein Versuch, mit einer sehr tiefgreifenden Unsicherheit fertig zu werden. Es ist die Suche nach einer Sicherheit, die es nicht mehr gibt.

Welche Spuren haben die Mauer, die Trennung und die ungute Art des Zusammenwachsens hinterlassen?

Es gibt eine große Verunsicherung. Das Erlebnis einer Kollegin aus dem Osten illustriert das: Die hat als kleines Kind monatelang eingegipst liegen müssen. Als der Gips abgemacht wurde, wich die Freude einem Schock, als sie feststellte, daß sie wegen der rückgebildeten Muskeln erst neu laufen lernen mußte. Das gleiche Gefühl, so sagte sie, habe sie nach dem Fall der Mauer gehabt: Ich steh' da wie das kleine Mädchen und bin froh, daß ich frei bin, und spüre zugleich, daß mich meine Beine noch nicht tragen. Diese Verunsicherung gibt es auch im westlichen Teil, nur gestehen sich die wenigsten das ein.

Die deutsche Teilung als Hort des Sicherheitsgefühls?

Die Teilung Deutschlands war eindeutig: Man wußte, wo der Feind steht, oder man sympathisierte mit ihm. Man war „frei“ oder „eingesperrt“. Es gab ein Entweder-Oder. Es gab Bahnen, in denen wir denken konnten. Seitdem die entfallen sind, stehen wir vor dem merkwürdigen Phänomen, daß wir innerlich am Hüben und Drüben festhalten.

Die Mauer um Berlin war immer eine Bedrohung. Signalisierte sie aber zugleich auch eine extreme Sicherheit vor den Bedrohungen von außen, wie sie jetzt in steigender Kriminalität etc. empfunden werden?

In West-Berlin hat die Sicherheit immer eine große Rolle gespielt. Wie das eben auf allen Inseln ist. Wir hatten sehr sinnliche Weltbilder: Da ist die Mauer, und dahinter fängt eine andere Welt an. Andererseits empfingen die Insulaner durch die Rolle als Vorposten und Schaufenster der westlichen Welt hohe finanzielle und narzistische Gratifikationen aus dem Westen. Das schaffte eine Identität und eröffnete Möglichkeiten zur Kompensation. Das hat zu einer gewissen Selbstüberschätzung geführt – als Überkompensation der Unsicherheit.

Was macht die Vereinigung in Berlin so schwierig?

Es fehlt in Berlin an Kontakten und an Austausch. In den Westberliner Berühungsängsten finden sich Schamgefühle, weil wir wissen, daß es uns im Durchschnitt besser geht als den Menschen in der ehemaligen DDR. Diese Schamgefühle gibt es aber auf östlicher Seite: wegen der erfahrenen Unterwerfung und wegen der westlichen Überheblichkeit, die aus dem vermeintlichen Besitz von Freiheit herrührt. Es gibt Aggressionen wegen des Verlusts des Systems auf der einen Seite und wegen der zunehmenden Notwendigkeit zu teilen auf der anderen Seite. Das macht ärgerlich. Schamgefühl und Ärger sind Affekte, die trennen. Das reibt sich innerlich und bringt Konflikte hervor. Das Gespräch

führte Gerd Nowakowski