„Antisemitismus mit der Muttermilch eingesogen“

■ Seit einem Jahr arbeitet eine polnisch-israelische Historikerkommission / Ihr Ziel ist es, die gegenseitigen Vorurteile aus den Schulbüchern beider Länder zu entfernen

Warschau (taz) – Am 4. Juli 1946 machte sich eine aufgebrachte Menschenmenge in der südpolnischen Stadt Kielce auf den Weg zu einem Wohnblock, der von zahlreichen jüdischen Überlebenden des Holocaust, überwiegend Frauen, Greise und Kinder, bewohnt wurde. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht verbreitet, die Juden des Ortes hätten versucht, an einem polnischen Jungen einen Ritualmord zu verüben. Unter den Augen der untätigen Polizei erschossen, erschlugen und steinigten die Kielcer insgesamt 42 Überlebende der deutschen Konzentrationslager. Es war das erste Pogrom nach dem Holocaust, verübt an dessen Überlebenden, doch als solchen verschweigen ihn die meisten polnischen Schulbücher. Sowohl wissenschaftliche als auch populärwissenschaftliche Werke weisen dagegen gerne darauf hin, daß es sich dabei um eine Provokation der Kommunisten gehandelt habe, die die antikommunistische Opposition im Ausland in Verruf bringen wollten. Eindeutige Beweise für diese These gibt es aber nicht. In Israel gilt das Pogrom von Kielce dagegen als weiterer Beweis für den polnischen Antisemitismus, den die Polen, wie es einmal ein hoher israelischer Politiker ausdrückte, „mit der Muttermilch eingesogen haben“. Die dortigen Schulbücher übergehen meist die Tatsache, daß es Polen sind, die allein ein Drittel der vom Holocaust- Memorial Institut Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichneten Retter von Juden während des Zweiten Weltkrieges ausmachen. Vor einigen Monaten sorgte ein israelisches Schulbuch für Aufregung, in dem unter Verweis auf die „blaue“ polnische Hilfspolizei der Nazis behauptet wurde, Polen und Deutsche hätten gemeinsam die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert. Professor Gutman, israelischer Historiker: „Das ist sehr ungerecht, zumal die jüdische Hilfspolizei oft eine viel traurigere Rolle bei den Deportationen spielte als die polnische.“ Populär ist in Israel auch die Auffassung, Hitler habe die Vernichtungslager deshalb in Polen errichtet, weil er mit der heimlichen Unterstützung der antisemitischen Polen gerechnet habe. Auch hierfür gibt es keinen Beweis.

Israelische und polnische Historiker wissen all dies natürlich, doch bis ihr Wissen in Schulbücher einfließt, vergehen meist Jahre. Seit einem Jahr tagt so bereits eine gemeinsame polnisch-israelische Schulbuchkommission, die die Fakten ins rechte Licht stellen und die Vorurteile aus den Schulbüchern tilgen soll. Arbeit hat sie genug, obwohl man sich, wie von Teilnehmern zu erfahren ist, unter Fachleuten recht schnell einig wurde. Jerzy Tomaszewski, Professor für Geschichte und Polens führender Minderheitenexperte: „In unseren Schulbüchern kommen Juden meist nur passiv als Verfolgte vor. Von ihren kulturellen Leistungen in Polen erfährt man nur selten etwas. Während die israelischen Schulbuchautoren kaum zur Kenntnis nehmen, daß in Polen auch Polen und nicht nur Juden lebten, erfährt man aus den polnischen Büchern nur in Ausnahmefällen mehr über die jüdische Minderheit, als daß sie eben verfolgt und von den Nazis in KZs deportiert wurde.“ Ein Hinweis auf die polnischen faschistischen Parteien und die antisemitische Haltung der Katholischen Kirche vor dem Zweiten Weltkrieg fehle dagegen häufig.

Fast schon regelmäßig nimmt sich Tomaszewski in der Presse polnische Schulbücher vor, um sie zu rezensieren. Was er dabei zutage fördert, läßt den Schluß zu, daß zwar seit vier Jahren die Zensur verschwunden ist – die Vorurteile aber geblieben sind. Danach waren die polnischen Juden der Zwischenkriegszeit „prokommunistisch“, was zumeist als Rechtfertigung für Pogrome von seiten der polnischen Bevölkerung angeführt wird. Tomaszewski: „Eine reine Legende.“ Sowohl israelische als auch polnische Historiker bedauern, daß ihre Erkenntnisse mit einer „Verspätung“ von mehreren Jahrzehnten Eingang in die Schulbücher finden. Das ist ein Problem, das auch der deutsch-polnischen Schulbuchkommission bestens bekannt ist. Doch würden diese Historiker Schulbücher schreiben, kämen die Schüler arg ins Schwitzen. Professor Tomaszewski: „Unsere Kommission ist sich bereits über die Zeit bis 1945 einig geworden. Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, was von unseren Empfehlungen wirklich in die Schulbücher aufgenommen werden soll. Denn alle unsere bisherigen Vorschläge zusammen würden jedes Schulbuch sprengen.“ Klaus Bachmann