Europa der Bürger und Regionen

■ Das Netz der alternativen und selbstverwalteten Unternehmen in Europa tagt am Wochenende in Berlin

Heute treffen sich in Berlin erstmals VertreterInnen des alternativen Wirtschaftssektors in Ost- und Westeuropa, um über ihre Perspektiven auf dem entstehenden europäischen Binnenmarkt zu beraten. Bereits 1992 wurde auf einem Kongreß in Brüssel das „Europäische Netzwerk für alternative und solidarische Wirtschaft“ (REEAS) von rund 200 selbstverwalteten Betrieben, selbstorganisierten Projekten, neuen Genossenschaften, Arbeitslosen- und Beschäftigungsinitiativen und Entwicklungsagenturen aus verschiedenen west- und osteuropäischen Regionen gegründet.

Trotz vielfältiger Unterschiede in ihrer Entstehung, ihrem Tätigkeitsfeld, ihrer sozialen und kulturellen Herkunft und Organisationsform fühlen sich diese Initiativen durch Wertvorstellungen wie Solidarität, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung verbunden: Grundwerte, die das bestehende Wirtschaftssystem und seine vorherrschende Ellenbogenmentalität in Frage stellen.

Mit dem REEAS, so Ricarda Buch vom „Lenkungsausschuß“, wollen die Initiativen die länderübergreifende Zusammenarbeit fördern und sich als „Sprachrohr eines Europas der Bürger und Regionen“ für den „Schutz der sozial Schwachen, der Umwelt, für Weltoffenheit und Toleranz“ einsetzen. Als Netzwerk für alternatives und soziales Wirtschaften tritt REEAS natürlich auch für die Anerkennung des gesellschaftlichen Nutzens des sogenannten „tertiären Sektors“ der Selbsthilfeprojekte und der partizipativen Unternehmen ein.

Eines der REEAS-Projekte ist die Gründung einer europäischen „Bank der Bürger und Regionen“, einer Art europäischer Ökobank. Geplant ist ein Netzwerk lokaler Sparkassen und Kapitalbeteiligungsgesellschaften, um lokales Sparaufkommen beschäftigungsfördernd im ökologischen und selbstverwalteten Bereich zu nutzen. Daneben befaßt sich das REEAS mit dem Aufbau eines europäischen Computernetzwerkes der Akteure von lokaler und regionaler Entwicklung und unterstützt die europäische Zusammenarbeit von Initiativen im Bereich der „fairen Handelsbeziehungen“ von Frauenbeschäftigung, ökologischem Landbau und der Entwicklung von Ökotechniken. Um den Anschluß an die europäische Ebene wirkungsvoll aufrechtzuerhalten, wird das REEAS in Kürze ein Büro in Brüssel eröffnen.

Davon will auch das „Netz für Selbstverwaltung und Selbstorganisation“ profitieren, mit dem REEAS in der Bundesrepublik kooperiert. Das Netz ist ein Verbund zwischen mehr als 1.700 Unternehmen mit rund 10.000 MitarbeiterInnen. Es versteht sich als „Verband der Verbände“. 3.200 MitarbeiterInnen arbeiten in 800 Handelsbetrieben mit annährend 1,6 Milliarden Umsatz. 700 Betriebe gehören zum Bereich der gewerblichen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen mit 3.500 Beschäftigten und 140 Millionen Umsatz. 1.800 SchreinerInnen, GärtnerInnen, MaurerInnen und andere Gewerbe arbeiten in 150 Handwerksbetrieben mit 100 Millionen Mark Umsatz.

Branchenverbände wie zum Beispiel der Bundesverband Naturkost/Naturwaren (BNN), der Verbund der selbstverwalteten Fahrradläden (VSF) oder der Verbund der Fairsicherungsläden sitzen im Netz an einem Tisch. Das Netz bietet Dienstleistungen wie Beratung, Fortbildung, Qualifizierungskurse oder eine eigene Altersvorsorgeversicherung für Betriebe an. Lobbyarbeit für die selbstverwaltete oder soziale Wirtschaft auf deutscher und europäischer Ebene gehört ebenso zum Arbeitsfeld wie der Aufbau von dezentralen Landesverbänden, wie sie in Hessen, NRW, Bayern und Baden-Württemberg schon existieren – und vielleicht auch bald in Berlin? Erhard O. Müller

Am Abend des 11. Juni stellen sich das deutsche und das europäische „Netz“ in Zusammenarbeit mit dem „Forum Bürgerbewegung“ in einer Podiumsdiskussion im „Haus der Demokratie“ (Friedrichstraße 165)