Der Wichtigtuer

■ Ich bekenne: „Ich saß auf dem heißen Stuhl“

Das Scheinwerferlicht ist kaum verloschen, da weicht aus Olaf Krachts Körper jede Spannung. Der Blick des Moderators vom „Heißen Stuhl“ wird glasig, seine Hände hängen wie feuchte Tücher vor den Armen. Das Volk auf den Rängen schleicht nach Hause. Es ist nicht auf seine Kosten gekommen. Einer sagt: „Du hast echt einen an der Waffel.“

Ich sitze immer noch auf jenem Stuhl, von dem behauptet wird, daß er heiß sei. Jedenfalls sind die Lehnen dick gepolstert. Obskure Fragen fliegen mir durch den Kopf: Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen? Freund Biermann aus Bochum kommt auf mich zugerannt und jubelt: „Ey, das war der Adelstitel. Matthäus hat dich als Wichtigtuer bezeichnet.“

Angefangen hatte alles am Freitag zuvor, 78 Stunden vor der Sendung. „Hätten Sie Interesse, beim ,Heißen Stuhl' mitzumachen?“, fragte die Redakteurin. Thema: Hooliganismus, Fußball, Weltmeisterschaft. Der Aufhänger: die Krawalle in Wien. Ich hörte mich am Telefon sagen: „Warum nicht?“ Dann ging alles sehr schnell und sehr professionell: „Wir buchen Sie in die Maschine Soundso, Sie übernachten im Hotel Soundso. Die Gäste stehen noch nicht fest.“ Während sie weiterplauderte, guckte ich verschämt in die Programmzeitschrift: tatsächlich, eine Livesendung.

Honorar und Thesen sind schnell geklärt. Meine Einwände, daß etwa das Thema viel komplizierter zu besprechen sei, als es die These „Fußball in den Stadien wird zum Ersatzkrieg“ nahelegt, werden mit mildem Ton in der Stimme zur Seite gewischt: „Wir brauchen etwas Knackiges.“ Aha, denke ich dem Gehorsam vorauseilend, es geht um Quoten.

Meine persönliche Vorbereitung beginnt. Freund Kraushaar aus Berlin, mit dem Milieu vertraut, rät dringend, auf dem Stuhl bloß die Beine auseinanderzuhalten: „Echte Kerle machen das so.“

Zwei Stunden vor der Sendung. In der Cafeteria des Kölner Studios sitzen schon die ersten ZuschauerInnen. Kölner Fußballfans, gekleidet, als gingen sie zum Heimspiel des örtlichen 1. FC: bunte Hemden und Vereinsschals. Eine Redakteurin geleitet mich in ein Zimmer, das nichts außer einem Schreibtisch enthält. Das Telefon kann nicht für Auswärtsgespräche genutzt werden. Keine Seelsorge mehr möglich. Statt eines Pfarrers bringt man mir Kaffee, Schnittchen und Mineralwasser. Wahrscheinlich könnte ich Rotwein der allerbesten Sorte verlangen. Es wäre der Super-GAU für die Sendung, wenn der heiße Stuhlinhaber kurz vor dem Auftritt desertierte. Mir läuft kein Schweiß von der Stirn. Olaf Kracht kommt in meine Zelle. Ja, Einzelhaft, haha, sei üblich, damit die Kontrahenten nicht schon vorher fraternisieren.

Ansonsten wirkt er wie eine Tellermine, die Angst hat, gleich betreten zu werden. Ich mag ihn dafür, frage ihn freundlich, ob er seine Brille vergessen habe. Nein, er trage schon seit längerem Kontaktlinsen. Der Mann braucht Trost: Kritiker haben ihn aber auch zu und zu gefleddert während der letzten Jahre. Er sei ein hohles Ei, hieß es; auch warf man ihm vor, mehr auf die Wirkung als auf den Sendeinhalt zu achten.

Alles ungerecht. In Wirklichkeit ist Olaf Kracht keineswegs der Wanderer über alle Leichen, den manche in ihm sehen. Er scheint immer noch wie ein kleiner Junge, der offenbar am liebsten auf der Straße allein spielen würde – statt dessen wird er von aller Welt erkannt und gemocht, doch eben nicht von den Kritikern, die ihm einfach verübeln, daß er sein Publikum ernst nimmt, also alles auf die Karte Unterhaltung setzt, die hier groben Schlagabtausch meint.

Eine Viertelstunde vor dem Rotlicht läuft Kracht wie ein Tiger durch die Räume, sein Blick stier, bar aller Posen. In meine Zelle kommen verschiedene Redaktionsmitglieder, immer gleich ihre Fragen: „Alles okay?“ Ja, der Stirnschweiß läßt immer noch auf sich warten.

Was dann kommt, ist alles halb so schlimm. Eigentlich sogar amüsant. Bestraft wird nur mein Aberglaube, daß bestimmte Sachen einfach unbestreitbar sind, beispielsweise die, daß in Deutschland der Fußball eng mit den fiesesten Formen und Auswüchsen des Nationalismus verknüpft ist: Mein erster Beitrag (Beine schön auseinander) wird von Jimmy Hartwig, ehemaliger HSV-Spieler, chaotisiert: „Sind Sie denn dabei gewesen?“, kräht er, der seiner schwarzen Hautfarbe wegen selbst von früheren Mannschaftskameraden gehänselt wurde, als ich bemerke, daß Lothar Matthäus zu den übelsten Rassisten im DFB-Nationalkader gehört, weil er niederländische Touristen auf dem Oktoberfest mit der Bemerkung bedachte: „Euch hat wohl Adolf vergessen.“

Nein, ich war nicht dabei. Jimmy Hartwig tut, was er immer tat – er spielt Onkel Toms Hütte nach. Der gute Schwarze, der den Weißen nicht übelnimmt, daß für sie Schwarze Bimbos sind. Auch Rainer Holzschuh vom Kicker belfert Dinge, die niemanden interessieren. Das Publikum befeuert sich und die Seinen mit Beifall.

Kracht ist um jeden Dialog bemüht. Horst R. Schmidt, der Richelieu des DFB, windet sich, gibt sich aber erfolgreich Mühe, Argumente vorzutragen. Günther Bahr, der Polizeiexperte schlechthin in Sachen Hooliganismus, erklärt, eigentlich mit mir einer Meinung zu sein. Das Volk beginnt zu johlen. Werbepause.

Die Maskenbildnerin tupft Puder nach, der Tonmeister richtet das Mikro. Dann geht's endlich zur Sache. Peter Neururer, Fußballtrainer mit so wenig Fortune, daß es zum Gotterbarmen ist, bezeichnet Hooligans als „Asoziale“. Ich koffere zurück. Beifall. Geil. Neururer guckt wie getreten. Kracht lächelt eine Spur. Endlich Krawall.

Mir wird die ganze Sache allmählich egal. Matthäus spricht via Liveschaltung sein Verdikt (“Wichtigtuer“), und plötzlich ist die Sendung vorbei. Dabei hatte es doch gerade erst angefangen. Leider hatte ich in der Eile meinen Wunsch vergessen, also nicht ausgesprochen, daß die deutsche Mannschaft schon aus gesellschaftstherapeutischen Gründen möglichst in der Vorrunde bereits ausscheiden sollte, so im Sinne von: Gott verzeiht nicht immer. „Dann wärst du gesteinigt worden“, tröstet mich eine gute Seele. Vier Bier, und die nötige Bettschwere ist erreicht. Olaf Kracht sitzt völlig erledigt auf einem Stuhl und guckt sich mit einem Kollegen Fotos einer kaum bekleideten jungen Frau an. Hartwig packt mich jovial an den Schultern: „Eigentlich bin ich ja deiner Meinung.“

Morgens am Flughafen, nach durchzechter Nacht, sagt er noch: „Vielleicht kriege ich eine eigene Fernsehshow, so mit eigenen Ideen.“ Na klar, solche Männer braucht das Land einfach: immer eine Visitenkarte in der Hand, allzeit meinungsflexibel und zur Not sogar den Mob umschmeichelnd. Ich wünsche ihm alles Glück der Welt. Jan Feddersen