Bestué lebt – wieder!

Mit der Landflucht verödeten viele spanische Dörfer, Stadtflüchtlinge lassen sie nun wieder aufleben  ■ Von Jochen Quandt

„Bestué no quiere morir“ – Bestué will nicht sterben – steht auf dem verwaschenen Graffito an der Nationalstraße zwischen Ainsa in den Pyrenäen Aragoniens und der französischen Grenze. Die Reisenden, die hier vorbeirasen, richten ihre Augen allerdings schon auf die Souvernirläden der tourismusgerecht restaurierten Altstadt Ainsas oder auf die Berge des Monte- Perdido-Massivs. Der in dreckigem Rot gesprühte Verzweiflungsruf Bestués stammt aus einer Zeit, in der dem Ort das Schicksal vieler spanischer Dörfer in schwer zugänglichen Bergregionen drohte: Nach und nach hatten die Einwohner es fast vollständig verlassen, um in den großen Städten Arbeit zu suchen. Die Einwohner Bestués waren Teil einer Wanderungsbewegung, die Mitte des vorigen Jahrhunderts begann. Viele Bewohner der Pyrenäen zog es nach Frankreich. Städte wie Bordeaux oder Toulouse waren für sie aufgrund des schlechten spanischen Straßennetzes leichter zu erreichen als die spanischen Metropolen, deren Anziehungskraft damals wegen der späten Industrialisierung noch sehr begrenzt war. In anderen Gegenden Spaniens war das Ziel der Emigranten Lateinamerika; erst später wurden die Industrien Kataloniens oder des Baskenlandes und in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts Deutschland zu Zielen der Migranten. In Bestué blieb am Ende nur eine Handvoll meist alter Menschen zurück, die sich von ihrem Dorf nicht mehr trennen konnten oder wollten. Sie harrten aus und mußten miterleben, wie um sie herum langsam die Häuser der ehemaligen Nachbarn einstürzten. Mitte der achtziger Jahre schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis mit dem Tod der letzten Einwohner das gesamte Dorf sterben würde.

Doch Bestué lebt. Heute sind fast alle Häuser wieder bewohnbar, und auch die letzen Runinen haben sich in Baustellen verwandelt. Von den Autos, die im Dorf stehen, hat kaum eins das Nummernschild der Provinz Huesca, sondern sie kommen aus Zaragoza oder Barcelona, aus Bordeaux oder Toulouse. Es sind ehemalige Einwohner Bestués, deren Kinder oder Verwandte, die zurückgekommen sind, für einige Wochen in den Ferien.

Die abgeschiedene Lage hoch in den Pyrenäen, früher Hauptgrund für die Abwanderung in die industrialisierten Städte, lockt die Städter in den Ferien an. Aus den Ruinen des Elternhauses haben sie ein Urlaubsdomizil errichtet. Während sich die Urlauber vom Stadtleben und der Arbeit in den Fabriken ausruhen, sind die wenigen, die das ganze Jahr in Bestué leben, mit der Heuernte beschäftigt. Die Arbeitsmethoden haben sich, seit die ersten das Dorf verlassen haben, kaum verändert. Moderne Maschinen sind an den steilen Hängen so gut wie gar nicht einsetzbar, und der Getreideanbau wurde ganz aufgegeben, da die Terrassenfelder so schmal waren, daß ein Mähdrescher darauf nicht einmal wenden könnte. Dort, wo die letzten Schafe den Bewuchs nicht zurückhalten, wachsen Büsche und Bäume, und bald wird schwer zu erkennen sein, daß diese Berghänge einmal Kulturlandschaft gewesen sind.

Die kleine Straße, die heute über Puértolas hinauf bis nach Bestué führt, ist neu. Wie zahlreiche Bergdörfer war auch Bestué bis in die achtziger Jahre hinein nur über schlechte Maultierpfade zu erreichen. Der alte Weg, der hinab ins Tal führt, dorthin, wo früher die Mühle Bestués stand, ist heute als GR 11 ausgeschildert. Auf diesem Fernwanderweg passieren Wanderer den Ort auf dem Weg zur Schlucht von Añisclo im Nationalpark von Ordesa, um dann weiter die gesamten Pyrenäen zu durchqueren. Im Dorf bleiben sie nur kurz. Bestué hat nicht viel zu bieten, außer einigen neugierigen Fragen von denen, die immer hier leben und für die Besuch eine willkommene Abwechslung ist.

Über den GR 11 oder eine sehr schlechte, ausgespülte Piste erreicht man von Bestué aus die Ruinen des Dorfes Escuain. Ein völlig verlassener Ort am unteren Ende einer atemberaubenden Schlucht. Die Mauerreste werden bald unter der dichten Vegetation verschwunden sein. Aus dem eingestürzten Dach der Kirche wachsen Bäume. Als die Bewohner Escuains vor vielen Jahren aufbrachen und Familie für Familie das Dorf verließ, ihre Maultiere bepackt mit allem, was sie tragen konnten, da hat sich niemand träumen lassen, daß die Touristen ihre Autos einmal dicht an dicht auf der kleinen Wiese am Ortsausgang parken würden. Jetzt stehen hier vor allem die Geländewagen mit Aufklebern der Reisebüros, die sich auf Action- Sportarten spezialisiert haben und die Touristengruppen zum Canyoning in die Schlucht von Escuain bringen. Andere Urlauber mühen sich in ihren eigenen Autos über die holprige Piste, um den Ort als Ausgangspunkt für Wanderungen zu nehmen. Für den Tourismus wurde eines der Häuser Escuains wiederaufgebaut. Im Erdgeschoß, in dem früher die Tiere untergebracht waren, gibt es jetzt ein kleines Café, und die obere Etage, früher Wohnung der Familie, ist als Unterkunft für Gruppen, die hier Ferienlager veranstalten, ausgebaut worden. In den Sommermonaten leben jeweils für ein paar Wochen 20 bis 30 Jugendliche in den Ruinen von Escuain.

An Pano, einem kleinen verlassenen Dorf in einem Vorgebirge der Pyrenäen, das einmal ein gutes Dutzend Häuser zählte, fließt der Touristenstrom noch vorbei. Doch bald soll hier sanfter Tourismus einziehen. Fremdenverkehr, gepaart mit Wein- und Olivenanbau, Schaf- und Ziegenhaltung oder Kunsthandwerk und Kulturangeboten, soll zur Einnahmequelle für die neuen Dorfbewohner werden.

Vor zehn Jahren starb vollkommen vergreist und vereinsamt der letzte Einwohner Panos. Lange lebte er allein zwischen den verlassenen Häusern. Heute hat Pano wieder neue Einwohner. Die Schweizer Sylvia und Kurt wollen wieder Leben in die Ruinen bringen. Seit 1990 leben sie mehr oder weniger fest hier. Sie haben den alten Eigentümern fast alle Häuser abgekauft und mit der Hilfe zweier Arbeiter und alljährlicher Workcamps im Sommer begonnen, die Häuser wiederaufzubauen. Für die Zukunft schwebt ihnen in Sachen Tourismus eine „kleine Pension mit Erholungscharakter“ vor, durch die „selbstverständlich der ursprüngliche Charakter des Dorfes nicht verlorengehen darf“. Bis das Dorf in neugeschaffener „Ursprünglichkeit“ strahlen darf, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Erst zwei Häuser sind wieder bewohnbar. Der Reisende, der über Nacht in Pano bleiben will, kann sich irgendwo im Dorf einen Platz zum Zelten suchen. Ruhig ist es ohnehin überall – zwischen den Brennesseln gibt es nichts außer dem toten Durcheinander der Balken des eingestürzten Dachstuhls.

Die Dörfer in den Ancares de León ziehen weit weniger Touristen an als die großen Zentren der Pyrenäen. Zu wenig spektakulär und für den Massentourismus erschlossen sind die Dörfer und Berge des Gebirgszuges im äußersten Nordosten der Provinz León an der Grenze zu Galicien. Auch hier haben die wenigen Einwohner die traditionelle Lebensweise weitgehend beibehalten. In Dörfern wie Balouta sind bis heute einige der pallozas bewohnt. In diesen großen, strohgedeckten Rundhäusern wohnen Menschen und Vieh unter einem Dach. Die Touristen, die hierherkommen, wollen den ursprünglichen ländlichen Charakter der abgelegenen Gegend genießen. Die Einwohner Baloutas wissen inzwischen darauf einzugehen. Auf der Dorfstraße wird man schnell eingeladen, das Innere einer der ärmlichen pallozas zu besuchen – gegen ein kleines Entgelt, das nach Aussage der Bewohner für den Erhalt des Strohdaches bestimmt ist. Dann bekommt der Reisende die Armut, die dörfliche Urspünglichkeit präsentiert. Die Bewohner der pallozas träumen vom modernen Haus. Ihnen ist daher gänzlich unverständlich, warum inzwischen mit öffentlichen Geldern in vielen Orten der Erhalt von pallozas gefördert wird oder warum die horreos, die traditionellen Nahrungsmittelspeicher Asturiens und Galiciens, inzwischen in ganz Spanien auf den Hochglanzplakaten der Tourismusunternehmen erscheinen. Sie sind froh, ihre Vorräte endlich in einem Kühlschrank lagern zu können und ein haltbares Schieferdach über dem Kopf zu haben.

Die Wohnküche des palloza in Balouta. Über dem Feuer hängt an einer langen Kette der Eisentopf, in dem Wasser erhitzt wird. Da die Häuser keinen Kamin haben, staut sich der Rauch im Inneren, bis er durch das Strohdach hindurch einen Weg nach draußen findet. Die Frau, die mit dem Kochen beschäftigt war, zieht sich zurück, und der Tourist wird eingeladen, Fotos zu machen – in der Hoffnung, daß er ein paar Peseten mehr für den Besuch bezahlt. Erst im vergangenen Jahr, erzählt der Besitzer, hätten sie sich entschlossen, Urlauber in ihr Haus zu lassen, denn das Dach könnten sie aufgrund ihres Alters nicht mehr selbst in Ordnung halten. Die wenigen Spezialisten, die es dafür gibt, verlangten 8.000 Peseten für einen Arbeitstag, gut 100 Mark. Ohne Gelder aus öffentlichen Tourismusfonds wird das Haus nach dem Tod der Alten ein ähnliches Schicksal erleiden wie das Nachbarhaus, dessen Bewohner vor Jahren nach Barcelona abgewandert sind: Das große Strohdach ist bei den letzten Schneefällen des vergangenen Winters eingestürzt.

Im benachbarten Piorneda sind in zwei restaurierten pallozas bereits kleine Museen eingerichtet worden. Aus den umliegenden Dörfern wurden alte Möbel und Arbeitsgeräte zusammengetragen. So sind Bilderbuchhäuser entstanden, die mit der Armut der pallozas von Balouta wenig zu tun haben. Aber viel mit der heilen touristischen Welt und dem Mythos vom romantischen Landleben.