Die neuen Leiden der Kinder

Nachdenken über den Nachwuchs ist immer auch heimliches Selbstgespräch der Gesellschaft über sich und den Zusammenhalt, die Grenzen wie auch die Zentrifugalkräfte  ■ Von Reinhard Kahl

Wer über Kinder und Jugendliche schreibt, begibt sich aufs Glatteis. Klagen über die nachwachsende Generation sind so alt wie die schriftliche Überlieferung. Schon babylonische Tafeln kündeten davon, daß mit den Kids nicht mehr viel los sei. An der Überzeugung, Menschenkinder seien Barbaren, die erst zivilisiert, sprich erzogen werden müßten, erkennt man gemeinhin die konservative Einstimmung auf die Welt. Hingegen ziehen die Leser von taz und Rotbuch ihren Nachwuchs antiautoritär auf. Aber nun stört Dorothea Dieckmanns Rotbuch „Kinder greifen zur Gewalt“ die saubere Normalverteilung in unserem Weltbild, und das ist gut so.

Die neuen Leiden der Kinder und Jugendlichen unterscheiden sich grundlegend von denen der vor 1968 Geborenen. Wir fühlten uns von Verwachsenen getäuscht, die nicht an das glaubten, was sie sagten. Wir rebellierten gegen Autoritäten, die schon längst keine mehr waren. Viele Kinder und Jugendliche heute wirken indessen wie Findelkinder, manchmal mit autistischen Zügen. Auch ihren Eltern ist der Glaube an sich selbst nicht gelungen. Aus Angst, dabei ertappt zu werden, daß sie nicht so recht wissen was sie wollen und wer wir sind, wagen sie nicht, nein zu sagen.

Wir haben gegen den engen Indikativ unserer Herkunftswelt die Weiten eines Konjunktivs grenzenloser Möglichkeiten gesetzt. Nun merken wir, daß die dabei entstandenen neuen Probleme nicht mehr mit den Schlachtrufen von gestern zu lösen sind. „Wir wollen alles und zwar subito“, klingt wie Hohn in den Ohren der Generation, die mit hundert Stofftieren aufgewachsen ist. Prallte vor '68 der Wunsch nach Auseinandersetzung an verhärteten Charaktermasken ab, bis dann die Rebellen ihren Lehrern und Eltern diese Masken triumphierend vom Gesicht rissen, so erleben Kinder heute vielleicht noch weniger Resonanz. Statt dessen haltloses, manchmal vorauseilendes Echo. Viele Wünsche hat man ihnen abgelesen, bevor sie die Chance hatten, sie zu äußern. Manche Eltern fürchten das Gezeter ihrer Kinder genauso wie ehemals das Machtwort ihrer Eltern. Sie erlauben sich immer noch keine Widerrede. Ihre Echowelt lallt: Ja, ja. Mach mal. Wenn du meinst. Schon gut.

Die Illusion vom Spiel ohne Grenzen hat Konturen vernebelt. Nun stört das Donnern neuer, gewaltlüsterner Jugendsubkulturen den vermeintlichen Frieden. Aber nicht nur an den Rändern wird der Wunsch nach Grenzen aller Art und harten Grenzerfahrungen laut. Auch Dorothea Dieckmann spricht sich für Grenzen aus. Und das in einem oft verstörend apodiktischen Ton, mit dem sie sich und ihren Essay nach überaus klugen und oft hellsichtigen Passagen schnell ans sichere Ufer der Eindeutigkeit zu bringen versucht.

In der Falle apodiktischer Eindeutigkeit verfängt und verheddert sich die Autorin, weil sie die Empirie scheut. Nicht ein Kind, das zur Gewalt greift, dürfen wir in dem Buch kennenlernen. Es wurde geschrieben, ohne vom Schreibtisch aufzusehen. Wir erfahren nichts, was wir nicht aus Zeitungsmeldungen wissen. Und weil sich die Empirie auf Pressezitate beschränkt, ist dann bald nicht mehr von bestimmten Kindern die Rede, sondern essayistisch und totalisierend von ,der Kindheit‘ oder eben von ,den Kindern‘, als wären sie alle gleich und nicht durchaus widersprüchlich, vor allem in sich selbst widersprüchlich.

Kinder, „die nie Wirklichkeitssinn ausbilden konnten, weil ihnen in der Kindheit die Fiktion einer ganzen – nicht heilen – Welt vorenthalten wurde, werden in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten nie den Möglichkeitssinn entwickeln können, der sie erst zu Schöpfern ihrer eigenen Wirklichkeit macht.“ Dieser Gedanke deutet ein neues Muster im Lebensgewebe heute Aufwachsender an. Aber wie ist dieses Muster mit anderen verwoben? Ist es so total, daß Kinder, „keine“ Grenzen mehr erfahren und deshalb „nie“ einen Wirklichkeitssinn ausbilden konnten? Gibt es im neuen Durcheinander nicht auch Mutationen, aus denen sich Vielversprechendes entwickelt? Die geschlossene Identität zerbricht, das ist wohl wahr. Aber sie bricht nicht nur entzwei, sondern in tausend Stücke, und diese werden in neuen Patchworks zu Multiidentitäten zusammengesetzt, an denen nicht zuletzt die Zwischenräume, die offen bleiben, vielversprechend sind. Daß diese Poiesis der Lebenswelt oft nicht gelingt, daß es produktive und katastrophale Formen des Scheiterns gibt, darüber muß weiter, aber eben auch genauer, nachgedacht werden. Levi-Strauss schon sprach von der „Bricolage“, von dem Basteln persönlicher Eigenwelten aus Bruchstücken. Der Bricoleur, der an seiner Lebenswelt bastelt, spielt mit den Grenzen. Das kann sich Dieckmann nicht vorstellen. Sie fordert wieder Grenzen. Darin unterscheidet sie sich natürlich um Welten von den Kindern, über die sie nachdenkt, die, weil sie keine Grenzen kennengelernt hätten, ,es nun wissen wollen‘, die zur Gewalt greifen und einen neuen Kult um Grenzen beginnen, von der Tätowierung bis zur Staatsgrenze. Die Autorin, die übrigens selbst Mutter ist und mit einem sehr pfiffigen und anschauungsreichen Buch über Mütter auffiel, läßt uns durchaus erkennen, aus welchen Gründen die Bricolage bei vielen Kindern nicht gelingt. Weshalb sie zuweilen gelingt, sollte uns aber mindestens ebenso interessieren.

Alles Nachdenken über Kinder und über deren Aufwachsen ist ein heimliches Selbstgespräch der Gesellschaft über sich, über das, was sie zusammenhält und was sie auseinanderreißt. Das gilt für dieses Buch besonders. Es ist eine Art Meditation über die Bedingungen, heute aufzuwachsen – also auch über das Leben und Nichtleben der Erwachsenen. Die Meditation hat Vorteile, weil sie manche Strukturen hellsichtiger beschreibt, als es die immer verwobenen und widersprüchlichen Geschichten aus dem Leben jemals könnten.

Aber dieser Mangel an Empirie ist eben auch ihr Nachteil. Manch ein schier unlösbares Problem wird in der Realität ganz anders aufgespalten und neu verbunden, als es sich denken läßt, wenn man im leicht verdunkelten Zimmer sitzt. Das Verschwinden einer resonanzreichen und zum Leben herausfordernden Realität, das Dorothea Dieckmann für Kinder behauptet, läßt sich für schreibende Erwachsene ja durchaus nachempfinden. Die Depression der Realität drückt, und als Gegenkraft sucht die Meditation nach Gewißheit. Aber die Gewißheit des Kritikers ist eben auch nicht die Welt. Es wird darauf ankommen, nach der Morgenmeditation die Fenster zu öffnen und sich dann irgendwann auch auf den Weg zu machen.

Das Buch hat in der Form des Monologs einen Diskurs begonnen, aus dem nun ein Gespräch werden muß, weniger eindeutig, weniger depressiv, aber nicht weniger klug.

Dorothea Dieckmann:

„Kinder greifen zur Gewalt“.

Rotbuch Verlag, Hamburg 1994,

182 Seiten, 16,90 Mark