Eine Herzenssache

Zwei Bücher zu Europa, die unterschiedlicher nicht sein könnten: einmal er, einmal sie  ■ Von Joscha Schmierer

Hans Apel hat seine politische Laufbahn im Europaparlament und in der EG-Verwaltung begonnen, bevor er schließlich (und relativ jung) Bundesminister wurde. Birgit Cramon Daiber hat ihre ersten Schritte in die repräsentativ institutionalisierte Politik als grüne Europaabgeordnete gerade hinter sich. Beide haben sie nun ein Buch in Sachen Europa veröffentlicht. Der eine im großen Rowohlt-Verlag als Hardcover, die andere in einer bisher unbekannten Edition Lit.europa. „Der kranke Koloß“, titelt Apel. Als „Wilde Rede an Europa“, will sich Cramon Daibers Text verstanden wissen.

Den Unterschied in Herangehen und Attitüde markieren zwei gleichermaßen kontrafaktische Überlegungen zum Verhältnis zwischen deutsch-deutscher Vereinigung und europäischer Integration. Um die „Krankheit“ des „Kolosses“ zu illustrieren, schreibt Hans Apel: „Stellen wir uns vor, wir hätten so Deutschlands Einheit bewältigen müssen. Dann wäre der Bundesrat gleichzeitig einzige Gesetzgebungsinstanz und Vertretung der Interessen der Bundesländer gewesen. Er hätte die wesentlichen Entscheidungen der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik einstimmig zu fassen gehabt. Bei zweitrangigen Fragen wären qualifizierte Mehrheitsentscheidungen möglich gewesen. Nichts wäre entschieden worden. Ein deutsch-deutscher Trümmerhaufen läge uns zu Füßen.“ (Die Hervorhebungen gehen auf die Kappe des Rezensenten.)

Bei Birgit Cramon Daiber klingt das so: „Die Europäische Gemeinschaft hat sich faktisch entschieden. Durch die deutsche Einigung und die Form, wie sie vollzogen wurde, ist der Weg nach Osten zunächst versperrt. Wäre die deutsche Einigung nicht als nationales Projekt, sondern als eines der Integration zwischen EG und Mitteleuropa versucht worden, in das zumindest Polen, Ungarn, die tschechische und die slowakische Republik einbezogen worden wären, so hätte dies zu ganz anderen Konsequenzen führen können.“

Er kritisiert den europäischen Sauladen aus einer deutschen Perspektive. Sie zeigt ihm, wie es auch europäisch funktionieren müßte. Das „wir“ steht gegen die anderen, mit denen man sich nicht so leicht einigen kann wie unter Deutschen, an die „wir“ uns aber wohl oder übel halten müssen. Am Ende läuft es auf wenig mehr als die kaum verschlüsselte Absicht hinaus, durch Abstimmung unter den „vier großen Ländern – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien“ (wo ist Italien?) – eine „Politik aus einem Guß“ zu machen.

Der anderen käme jenes „wir“ gar nicht in den Sinn. Statt im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß eine Folie der Kritik zu sehen, sieht sie umgekehrt in dessen scheinbar glattem Verlauf eine Störung wünschenswerter, aber jetzt schwieriger gewordener europäischer Vereinigungsschritte. Daß dies mit dem Schnee von vorgestern weggeschmolzen ist, weiß natürlich auch die Autorin.

Die Frage ist allemal nicht, wer „realpolitischer“ denkt. Es geht um Perspektiven. Die Grünen sind als europäisch-westdeutsche Partei entstanden. Die Sozialdemokratie ist zwar als Partei der internationalen Arbeiterbewgung angetreten. Je mehr sie aber auf den Staat als Hebel von Reform setzte, desto deutscher mußte sie werden. Die Wiedervereinigung ist für Hans Apel gelaufen, weil sie staatlich und damit grundsätzlich gelungen ist. Eine solche Lösung ist für Europa nicht absehbar. Dennoch ist für Apel die Notwendigkeit der europäischen Integration offenkundig. Aber fast alles, was unter diesem Zeichen geschieht, hält er für dilettantisches Zeug, das er zudem viel besser machen könnte. So ist ihm Europa keine Frage, sondern Ärgernis. Es läßt sich aus der Logik des Staates nicht erfassen.

Für Birgit Cramon Daiber, der eine europäische Perspektive selbstverständlich ist, bleibt Europa dagegen eine Frage, auf die sie eine Antwort von den BürgerInnen, ja den „Betroffenen“ erhofft. Die deutsche staatliche Vereinigung hat nichts einfacher gemacht. Im Gegenteil: Die Renationalisierungstendenzen in Europa haben zwar in der größeren Bundesrepublik kein ideologisches Zentrum, aber ihren harten Kern. Gegenüber einer potentiellen Vormacht bleibt es einfach plausibel, sich auf Eigenständigkeit und denkbare Abwehrbündnisse zu versteifen, um nicht unter die Räder zu kommen. Dafür hat Cramon Daiber ein Gespür. Sie plädiert mit „policy first!“ für eine rasche Erweiterung der EU nach Osten. Apel hält sie zwar für unaufhaltsam, sieht aber die Ärgernisse damit nur wachsen. Daß es überhaupt „Betroffene“ gibt, wird für ihn zum Skandal, da dies Verzögerungen notwendiger Regelungen produziere. Europäische Politik ist für ihn desto gelungener, je weniger Friktionen spürbar werden. Friktionen sind politische Kunstfehler.

Wahrscheinlich ist Hans Apel schon überzeugter Anhänger der EG gewesen, als sich Leute wie Birgit Cramon Daiber noch per Autostopp über die innereuropäischen Grenzen vortasteten, ohne viel an die EG zu denken oder von ihr zu halten. Das Abenteuer Europa ist vor allem durch die EG zur Gewohnheit geworden. Wahrscheinlich muß man das Leuten wie Hans Apel hoch anrechnen. Jetzt aber ist Europa wieder ein Wagnis. Können sich die anderen auf die größere Bundesrepublik einlassen und ist diese bereit, die neugewonnene staatliche Einheit in der europäischen Integration als Einsatz zu riskieren?

Einer wie Hans Apel weiß immer Bescheid, hat aber wenig Ahnung. Eine wie Birgit Cramon Daiber hat Ahnung und versucht durchzuackern, was man wissen müßte. Sie ist nachsichtiger gegen europäische politische „Kunstfehler“, weil ihr Europa als politisches Projekt so neu ist, wie es ihr als Lebenserfahrung vertraut erscheint.

Die Frau hat erneut einen aussichtsreichen Platz auf der grünen Europaliste bekommen. Nun scheint ihre Wiederwahl an einem Formfehler bei der Einreichung ihrer persönlichen Wahlunterlagen zu scheitern. So etwas wird Hans Apel im Leben nie passieren.

Hans Apel: „Der kranke Koloß. Europa – Reform oder Krise“. Rowohlt, Hamburg 1994, 236 Seiten, 34 Mark

Birgit Cramon Daiber: „Wilde Rede an Europa. Europa ist nicht, was es war. Europa ist nicht, was es sein will. Existiert Europa?“ Edition Lit.europe, Berlin 1994, 120 Seiten, 26,80 Mark

Vom Rezensenten erschien: „Die neue Alte Welt oder: Wo Europas Mitte liegt“. Wieser Verlag, Klagenfurt 1993