„Das Gebot der Stunde heißt Warten“

Nordkoreas „atomare Herausforderung“ bietet für die USA, Japan und China Anlaß zum diplomatischen Ränkespiel / In den Nachbarländern Japan und Südkorea herrscht Gelassenheit  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der kalte Krieg in Nordostasien ist in diesen Tagen in eine neue Phase getreten. Außenminister reisen hin und her. Präsidenten führen stundenlang Telefongespräche. Kriegsdrohungen liegen in der Luft, Sanktionen werden erwogen. Alle äußeren Anzeichen sprechen für eine Verschärfung der Krise um ein Land, das kaum einer kennt.

Doch gerade im Unbekannten liegt der Keim der Dramatik: Immer unheimlicher, immer gefährlicher wirkt dieses rätselhaft ruhige Nordkorea, je mehr Wirbel Weltpolitik und Medien um den alten Diktator Kim Il Sung veranstalten. Völlig unverständlich erscheint daher eine Mitteilung der US-amerikanischen Botschaft in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul von gestern: „Es gibt derzeit keine Veränderungen in der militärischen Situation auf der koreanischen Halbinsel und keinerlei Anzeichen für militärische Auseinandersetzungen“, beteuern die US-amerikanischen Diplomaten dort. „Reisenden auf der koreanischen Halbinsel wird keine Warnung erteilt.“

Wie aber lassen sich dann die kriegerischen Schlagzeilen verstehen, mit denen Nordkorea im Westen für Aufregung sorgt? Warum erlebt die nordpazifische Region ausgerechnet heute ihre heißeste diplomatische Phase seit Beilegung des Kalten Krieges in Europa?

Zum Auftakt weiterer Ministerrunden zwischen den asiatischen Nachbarländern Japan, China und Südkorea am Wochenende gab die Führung in Peking gestern ein scheinbar passendes Empfangssignal: Sie zündete auf einem Testgelände in der Provinz Xinjang eine Atombombe. Nur ein Routinetest, mochten sich zynische Diplomaten sagen. Doch die chinesische Führung hat ihren Sinn für politische Symbolik bis heute nicht verloren. Rechtzeitig wies die Führung in Peking Japanern und Südkoreanern, den Nicht-Atommächten der Region, ihre Rolle als politische Hinterbänkler zu. Koji Kakizawa, der japanische Außenminister, ist nun am Sonntag in Peking willkommen.

Noch lassen sich die langfristigen Folgen dieser diplomatischen Großmänover in Nordostasien kaum erkennen. Nur eines scheint bislang festzustehen: die Krise um den vermuteten Atomwaffenbesitz Nordkoreas entpuppt sich als Katalysator für eine Neuordnung der internationalen Beziehungen in der Region. Nicht etwa die undurchsichtige nordkoreanische Atompolitik ist unmittelbarer Auslöser für die Beunruhigung in den asiatischen Nachbarstaaten. Sondern erst der durch Washington vermittelte Sanktionsdruck, der die Regierungen in Tokio, Peking und Seoul in den letzten Tagen unter Entscheidungszwang stellte, sorgte für Aufregung in den Regierungsquartieren.

Steigende Aktienkurse sprechen gegen Krieg

Seriöse Beobachter sind sich nämlich einig: Eine unmittelbare Kriegsgefahr besteht trotz der massiven Drohungen Nordkoreas nicht. Den in Tokio erscheinenden Zeitungen waren die jüngsten nordkoreanischen Kriegsdrohungen gegen Japan bisher kaum eine Schlagzeile wert.

Überzeugender als die Propaganda aus Pjöngjang ist für die meisten asiatischen Beobachter allemal der Börsenbericht aus Seoul: Trotz Generalmobilmachung und Vorbereitungen für Zivilschutzübungen stiegen dort die Aktienkurse. „Die Aufregung über Nordkorea beschränkt sich hier auf die Ausländer, und auch unter ihnen nur auf solche, die keine Geschäfte betreiben“, behauptete gestern ein deutscher Bankmanager in Seoul. Ganz vollständig war dieses Bild freilich nicht: Tatsächlich demonstrierten in den letzten Tagen annähernd 50.000 Studenten in zahlreichen Städten Südkoreas – allerdings nicht gegen, sondern für den kommunistischen Norden. Nach einer jüngsten Umfrage haben von Südkoreas Jugendlichen sechsmal so viele Angst vor den USA wie vor Nordkorea.

Auch älteren Südkoreanern erscheint die Aussicht, US-Kriegsschiffe könnten eine Blockade gegen Nordkorea unterstützen, weitaus erschreckender als eine Atombombe in den Händen Kim Il Sungs.

Yun Duk Min, ein Atomexperte am Institut für Außenpolitik in Seoul, formuliert vermutlich die Mehrheitsmeinung: „Das Gebot der Stunde heißt Warten. Es gibt keinen Grund, Nordkorea an den Abgrund zu drängen. Statt dessen sollten wir den Dialog aufrechterhalten und die Kommunikationslinien pflegen.“ Sein japanischer Kollege Fuji Kamiya, Professor an der Tokioter Toyoeiwa-Universität pflichtet bei: „Wir sollten das Gespenst eines zweiten Koreakrieges schnell beseitigen. Statt ein weltpolitisches Theater aufzuführen und Kim für unberechenbar zu erklären, ist es besser, diesen Mann mit kühlem Kopf zu beobachten. Nordkorea wird keine Selbstmordaktion begehen wie Japan im Zweiten Weltkrieg“.

Wörtlich genommen richten sich die Appelle der Experten an die eigenen Regierungen in Seoul und Tokio, implizit aber klingt in ihnen eine deutliche Kritik an der US-amerikanischen Politik an. So sind denn auch die lautstarken Solidaritätsbekundungen zwischen Washington, Seoul und Tokio irreführend. Wie unterschiedlich die Krise interpretiert wird, zeigte sich vor wenigen Tagen auf einem informellen Empfang im Tokioter Finanzministerium: Dort bestürmten US-Journalisten einen sprachlosen japanischen Staatssekretär. Sie wollten wissen, wie die japanische Regierung gedenke, Sanktionen gegen Nordkorea umzusetzen. Die Antwort fiel kurz aus: „Japan verfügt über keine entsprechenden Gesetze.“

Die Reaktion lößte prompt ein empörtes Echo in der US-amerikanischen Presse aus. Die New York Times warf der japanischen Regierung vor, die US-Sanktionspolitik zu unterlaufen.

Aus der Debatte aber klang nun heraus, was die politische Wirklichkeit in Nordostasien viel besser erfaßt, als die ewige Litanei über Kims Atomdrohung: Ein diplomatischer Konflikt zwischen den führenden Großmächten des Pazifiks, USA, Japan, China und Südkorea. Die vier Mächte ringen um eine neue Kräftebalance.

Was Nordkorea betrifft, nützt der Fall Washington, im übrigen aber gilt der Kommentar der in Hongkong erscheinden Zeitschrift Asiaweek: „Wenn eines der drei Länder – Japan, China und Südkorea – eine wirkliche Bedrohung in Pjöngjang sehen würde, wäre es unvorstellbar, daß alle drei heute gleichzeitig für Zurückhaltung werben“.