■ Die Bürger der Europäischen Union haben gewählt
: Lieber Schmusekurs als Eklat

Das Europaparlament wird seine harmonische Tradition der großen Koalition von Sozialisten und christdemokratischen Volksparteien mit ziemlicher Sicherheit fortsetzen und schon deshalb auch weiterhin nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zwar werden die neuen Abgeordneten auch diesmal wieder schwören, daß sie um mehr Demokratie in der Europäischen Union kämpfen werden, aber wenn es darauf ankommt, dann werden sie brav bleiben und nach allen Seiten hin Konsens suchen, statt offensiv werden und auf Macht setzen.

Denn Chancen, mehr Demokratie zu erkämpfen, hatte das Parlament immer wieder, es hat sie nur nie genutzt, weil die großen Fraktionen lieber auf Schmusekurs bleiben, als einen Eklat zu riskieren. Daß man gegenüber dem allmächtigen Ministerrat nur mit glaubhaften Drohungen etwas durchsetzen kann, das haben vor allem die britische und die spanische Regierung immer wieder vorgemacht. Und nie ist die Welt untergegangen.

Doch das Parlament hat dem Maastrichter Vertrag zugestimmt, obwohl von der geforderten Demokratisierung der europäischen Gesetzgebung nur ein paar Krümel übriggeblieben waren. Das Parlament hat der Erweiterung der EU zugestimmt, obwohl die lautstark geforderte Anpassung der Institutionen ausgeblieben war, zum Beispiel die notwendige Änderung der Abstimmungsregeln. Und schon vorher hat das Parlament dem Binnenmarkt zugestimmt, obwohl die verlangte soziale Komponente fehlte.

Im Ministerrat herrscht feste Zuversicht, daß sich das Parlament nicht traut, so wichtige Sachen durch Pochen auf Forderungen zu verschieben. In der Tat befürchten die allermeisten Abgeordneten, die Bürger würden ihnen soviel Entschlossenheit übelnehmen. Es ist schon eigenartig, wie wenig Europarlamentarier den Bürgern zutrauen, zu unterscheiden zwischen der Ablehnung eines Vertrages und dem Festhalten an Bedingungen. Vor allem, wenn das Festhalten an Bedingungen die Europäische Union erst demokratisch machen würde.

Es gibt Dinge, die zusammengehören. Der Binnenmarkt ohne Sozialcharta hat die europäische Wirtschaft intern in eine höchst bedenkliche Schräglage gebracht, weil die britische Industrie den Wettbewerbsvorteil wahrnimmt, seine Arbeiter stärker ausbeuten zu können. Der Maastrichter Vertrag ohne echte Aufwertung des Parlaments läuft im Grunde auf ein gigantisches Währungsexperiment ohne politische Absicherung hinaus. Die Erweiterung der Europäischen Union ohne die institutionellen Anpassungen bedroht die Funktionsfähigkeit der europäischen Entscheidungsgremien. Und das Parlament läßt sich das alles gefallen.

Der anhaltende Streit um die Sozialcharta zeigt, wie schwer es ist, Bedingungen nachträglich einzufordern. Wieso sollte die britische Regierung jetzt Kinderarbeit einschränken? Sie wollte den Binnenmarkt, sie hat ihn bekommen. Nur solange sie ihn wollte, hätte der Rest Europas die Sozialcharta zur Bedingung machen können.

1996 wird eine Regierungskonferenz die Spielregeln der Europäischen Union überarbeiten. Allzuviel wird dabei nicht herauskommen. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen der 12 oder dann 16 Regierungen, in welche Richtung und mit welchem Tempo die Europäische Union weiterentwickelt werden soll. Aber gerade deshalb werden 1996 voraussichtlich die Weichen für ein Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten gestellt. Wenn das Parlament darauf Einfluß nehmen will, müssen die neuen Abgeordneten vor allem Mut zum Konflikt lernen. Alois Berger