Zitatstrotzende Grotesken

Die Dramatikerin Marlene Streeruwitz ist die meistgespielte Autorin dieser Spielzeit / Ein Porträt  ■ Von Jörg J. Meyerhoff

„Vor neun Uhr nicht aufstehen zu müssen“ hieß ihr eigentliches Lebensziel. Das hat Marlene Streeruwitz längst erreicht. Fünf ihrer Stücke schafften innerhalb der letzten zwei Jahre den Sprung aus der Schublade auf bundesrepublikanische Edel-Bühnen. Das sechste, „Tolmezzo – eine symphonische Dichtung“, kam gerade in ihrer Heimatstadt Wien zur Uraufführung. Insgesamt haben 16 deutschsprachige Theater ihre Dramen im Repertoire. Keine andere lebende Autorin wird in dieser Spielzeit auch nur annähernd so oft gespielt. Daß ihre Arbeit ernst genommen wird, glaubt sie dennoch nicht.

Seit Marlene Streeruwitz 1990 vom allmächtigen Branchenblatt Theater heute als neu zu entdeckende Autorin vorgestellt wurde, führte ihr Weg steil nach oben. Bereits 1992 kürten sie die Kritiker zur „Nachwuchsautorin des Jahres“. Das Schauspiel Köln führte zur gleichen Zeit „Waikiki-Beach“ und „Sloane Square“ auf. 1993 setzten die Rheinländer mit „Ocean Drive“ noch eins drauf, die Münchner Kammerspiele schnappten sich die Rechte für „New York, New York“, und das Deutsche Theater in Berlin riß sich um die Ehre, „Elysian Park“ auf die Bühne bringen zu dürfen.

Ob ihr dieser plötzliche Ruhm unheimlich ist? „Nein, so schnell ging es ja auch wieder nicht“, sagt sie ernst und verweist auf vier erfolglose Jahre, in denen sie Intendanten anschrieb und Dramaturgen löcherte. Entscheidend sei dann gewesen, daß im richtigen Augenblick drei Stücke vorlagen, die alle einen Stil und eine Richtung gehabt hätten. „Von da an ist dann alles nicht leicht, aber doch gegangen.“

Publikum und Kritik reagieren oft mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Freundlichkeit auf ihre zitatstrotzenden Kleinbürger-Grotesken. Dramaturgen sind begeistert, weil sie endlich eine Newcomerin gefunden haben, deren Stücke starke Frauenrollen bieten. Wenig Bühnenhandlung vermischt sich dabei mit viel tiefgründigem Gerede. Wie Unbeteiilgte blicken die Figuren auf die über sie hereinbrechende Gewalt. Ausgangspunkt ist immer ein öffentlicher Ort: ein Pissoir, eine U-Bahn- Station, ein Kaffeehaus. Was als Gesellschaftsfarce beginnt, kippt schnell um und mutiert zum surrealistischen Alptraum. So wiederholen sich einzelne Szenen, ganze Horden von Nebenfiguren erobern die Bühne und verschwinden wieder. In „Tolmezzo“ agieren unter anderem vier Barbie-Puppen samt dazugehörigen Kens und ein gewisser Spiderman.

Die Sprache all dieser Figuren ist von Punkten durchbohrt. Fast ohne jedes Komma. Der kürzeste Satz ist gerade mal ein „O“ lang. Der stockende Wortfluß verrinnt im Wirrwarr abgerissener Gedanken – schlimmer als im richtigen Leben. Wort- und Satzfetzen überlagern sich, zahlreiche Gesangseinlagen ergänzen den Text. Ihre Abneigung gegen Nebensätze erklärt Streeruwitz mit der Erfahrung, daß gerade in der politischen Sprache im Hauptsatz immer vernebelt wird, was als Aussage hinter dem Komma versteckt bleibt. Wichtig bei ihren Texten sind der Tochter des ehemaligen Bürgermeisters von Baden bei Wien vor allem der Rhythmus und die Komposition.

So hat Regisseur Gerhard Willert in der Uraufführung von „Tolmezzo“ das ganze Schauspielerensemble orchestriert, um dem Untertitel „eine symphonische Dichtung“ gerecht zu werden. Es wird im Takt gekichert, geklatscht, gehechelt, gerufen, getrampelt, gequietscht und deklamiert. Das Stück über eine jüdische Emigrantin und ihre Tochter, die in einer Wiener Sommernacht auf eine Melange von Zukurzgekommenen und Großkotzen stoßen, rauscht leider trotzdem vorbei und zerfällt zur ausstaffierten Geräuschkulisse. Am Ende steigern sich die Sprach- und Handlungsmotive in ein kunstvolles Fortissimo aus Wiederholungen.

„Identifikationstheater will ich nicht machen“, schreibt Streeruwitz vorsorglich ins Programmheft, „die Leute sollen möglichst rausgehen ohne feste Erinnerung. Man braucht sich auf der Bühne keine Biographien mehr anzusehen, daran glaube ich nicht, das ist überlebt im Zeitalter der Posthistoire.“ Ein paar Seiten weiter mahnt sie, daß Kunst etwas mit Arbeit zu tun hat: „Bewußtsein fliegt nicht als gebratene Taube zum Fenster herein. Bei Vernissagen schon gar nicht. Wer Kunst mit Annehmlichkeit verwechselt, muß weiter in die Operette gehen.“

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Weil sie trotz Erfolgs von ihren Stücken allein nicht leben kann, verfaßt Streeruwitz in ihrem Brotberuf Informationsbroschüren für Bauern, oder sie organisiert Ausstellungen. Hauptthemen sind ökologischer Landbau und Landschaftsschutz. In letzter Zeit schreibt sie auch über Fragen zu Österreichs Beitritt zur Europäischen Union.

„Man hat beim Drama die größte Chance, antiautoritär zu schreiben und dabei eine eigene Meinung, Lebenshilfe und Betroffenheit zu vermeiden“, begründet sie ihr spezielles Interesse am Theater. Es fasziniert sie, eine hermetisch abgeschlossene Welt auf die Bühne zu bringen. In einem Aufsatz antwortete sie sich selbst auf die Frage nach ihrer Rolle in der Theaterliteratur: „Gegenstand der Klassiker war der Tod. Gegenstand des modernen Dramas war das Sterben. Ich beschäftige mich mit dem Leben.“

Obwohl sie selbst schon mehrmals bei Hörspielen und im Theater Regie geführt hat, möchte sie ihre eigenen Stücke auf keinen Fall inszenieren: „Ich habe so eine genaue Vorstellung davon, was es sein soll, daß ich einer Umsetzung nur hinderlich wäre.“

Diese Haltung gibt sie auch nach ihren Negativerfahrungen in Berlin nicht auf, wo Regisseur Harald Clemen ihr Stück „Elysian Park“ durch seine Streichungen und die Inszenierung „vergewaltigt“ hat und sie sich selbst „hereingelegt“ fühlt.

„Das Deutsche Theater war einmal eine Stätte der Aufklärung. Eine Stätte des Geistes. Des Geistes. Heute herrscht unreflektierte Emotionalität. Plumpe Selbstlebenshilfe der Schauspieler und Regisseure“, läßt sie in „Tolmezzo“ einen gescheiterten Philosophieprofessor schimpfen.

Ihre eigene akademische Karriere als Literaturwissenschaftlerin hat Marlene Streeruwitz nach ihrer Dissertation über „Die revolutionären Aspekte des russischen Dramas des 19. Jahrhunderts“ aufgegeben und ihr Studium nicht abgeschlossen. „Leider“, wie sie betont, „aber in Österreich kann man ja auch durch Älterwerden promovieren.“

Beendet hat sie dagegen vorerst ihre kometenhafte Dramatikerkarriere – als nächstes schreibt sie, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, einen Roman.

Marlene Streeruwitz: „Tolmezzo – eine symphonische Dichtung“. Schauspielhaus Wien. Inszenierung: Gerhard Willert. Bühne: Florian Parbs