Geschäftemachen kann man lernen

Wenn russische Kleinhändler in Peking billige chinesische Textilien kaufen, machen beide Seiten ein gutes Geschäft / Nur die Europäische Union sorgt sich um die Einhaltung der Exportquote  ■ Von Jutta Lietsch

„Vom Handel versteht er noch nicht viel“, sagt Frau Wang nachsichtig und meint den russischen Bauingenieur in Trainingshosen, der durch das Foyer des Guotai- Hotels eilt. „Er ist erst drei Monate hier. Seine Firma in Irkutsk hat sich jetzt auf die Organisation von Reisen umgestellt.“ Ein Bus mit Neuankömmlingen ist vorgefahren, die Hotelhalle füllt sich schnell. Schwerbepackte Männer und Frauen treten aus den Aufzügen und drängeln sich an der Gruppe vorbei, schleppen Kisten und unförmige Kleiderballen zum Ausgang: Sommer- und Herbstkleidung, die bald auf den Märkten in Minsk oder Moskau, Nischni Nowgorod oder Nowosibirsk erscheinen wird.

Alles spricht Russisch – die Gäste fließend und die chinesischen Angestellten an der Rezeption schon fast routiniert. Und die lange brachliegenden Sprachkenntnisse der ehemaligen Lehrerin Wang sind durch mehrere Reisen in die ehemalige Sowjetunion in den vergangenen Jahren wieder aufgefrischt worden.

„Sdrastwitje“, ruft es durch die geöffneten Türen im fünften und sechsten Stock des im Zentrum Pekings gelegenen Hotels. Aus den Gästezimmern sind in den vergangenen drei Jahren Schauräume geworden, die sich fast wie ein Ei dem anderen gleichen: ein Bett an die Wand gerückt, der laufende Fernseher in der Ecke, Sofa, Sessel, Schreibtisch, die Lampen eingeschaltet. An den Wänden und vor den Fenstern die Musterstücke: Pullover mit und ohne Glitzerbesatz, Mäntel, Baumwollhosen, Seidenblusen. Im Angebot sind auch Schuhe, Kunstblumen, Spielzeug und Perücken. „Was brauchen Sie“, fragt Herr Zhou, „ich mache Ihnen einen guten Preis.“

Herr Zhou hat die Fünfzig hinter sich. Er vertritt eine staatliche Bekleidungsfirma aus der Provinz Guangzhou. Nachdem sich schnell geklärt hat, daß die Besucherin weder russische noch „jugoslawische“ – und offensichtlich auch nicht mongolische – Kundin ist, läßt sein Interesse dennoch nicht nach. Der deutsche Markt ist, meint er, gewiß noch aufnahmefähig. Und das Geschäftemachen kann man lernen. Alter ist kein Hindernis. Herr Liu ist der beste Beweis. Er war bis vor kurzem Diplomat. Und er findet sich in bester Gesellschaft. Ein paar Zimmer weiter bietet eine ehemalige Sängerin äußerst günstige Mäntel an, hier eine Hochschuldozentin, dort ein Historiker und daneben ein Übersetzer. Nach über zwanzig Jahren sieht sich eine Gruppe von Leuten wieder begehrt, deren Ausbildung lange nicht nur als nutzlos galt, sondern denen diese oft sogar als politischer Fehler vorgehalten wurde: Die heute über Fünfzigjährigen, die vor dem sino-sowjetischen Bruch anfang der sechziger Jahre Russisch studiert hatten.

Frau Li und ihr Mann arbeiten für ihre eigene Firma. Andere Familienmitglieder reisen in alle Teile des Landes und kaufen die Ware in staatlichen Betrieben ebenso wie in privaten Sweatshops, in denen junge Mädchen vom Lande für ein paar Mark am Tag nähen. Das Familienunternehmen hat Lagerräume in Peking gepachtet. Mit der Vermietung von Büroräumen an die chinesischen Händler sollen sich auch staatliche Behörden etwas dazuverdienen.

Vor drei Jahren noch verkaufte Frau Li an einen Stand auf dem „Russenmarkt“, wenige Minuten vom Hotel entfernt, beim Ritan- Park. Das war billiger, aber ungeschützter. Erst vor kurzem sei am hellichten Tag ein Mann erschossen worden, der einen Handkoffer, randvoll mit Geld, bei sich hatte.

„Die Geschäfte gehen sehr gut“, sagt Frau Li. Und Caishen, der Patron der glücklichen Unternehmungen und des Reichtums, lächelt wohlwollend vom Schreibtisch auf die Obst- und Räucherschalen herab. Frau Li kann die Miete von rund 9.000 Yuan (1.800 Mark) im Monat für den rund 16 Quadratmeter großen Raum verschmerzen, auch wenn diese erst kürzlich von 5.000 Yuan erhöht worden ist. Interessierte Käufer können bei ihr nicht nur die Ware bestellen, sie organisiert auch den Flugtransport an jeden gewünschten Ort und erledigt die Ausfuhrformalitäten.

Immer mehr Kunden kommen inzwischen nicht mehr mit der Transsibirischen Eisenbahn. Sino- russische Reisebüros chartern Flieger für die Handelsreisenden. Air China-Tianjin Branch hat eine Vertretung im Hotel. „In diesen Flugzeugen ist ein Teil der Sitzreihen ausgeräumt, um Platz für die Kisten und Ballen zu machen“, sagt Frau Wang. „Ein Ticket Moskau–Tianjin und zurück kostet 500 US-Dollar.“ Mit dem Verkauf der Waren, die sie in Peking eingekauft haben, können die russischen, ukrainischen, usbekischen und mongolischen KleinhändlerInnen zu Hause jeweils bis zu dreitausend US-Dollar verdienen, fügt sie hinzu. Seitdem diese sino-russischen Charterflüge vom Pekinger Flughafen verbannt wurden, landen sie in der rund 120 Kilometer entfernt gelegenen Stadt Tianjin, bis zu 150mal im Monat. Von dort aus geht es weiter mit dem Bus in die Hauptstadt.

Die Aktivitäten der KleinhändlerInnen im Guotai-Hotel und auf dem nahe gelegenen Markt sind nur ein kleiner Teil des aufblühenden Handels zwischen China, Osteuropa und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Anfang April hat eine Delegation der Europäischen Kommission Peking besucht, um unter anderem über die Einhaltung der Quoten für die Textilexporte in die EU zu verhandeln und die Regierung aufzufordern, energischer gegen Markenfälschungen vorzugehen. Die China Daily kündigte eine Kampagne gegen illegale Exporte an und erklärt, man wolle der verbreiteten Praxis Einhalt gebieten, Textilien über ein Drittland zu exportieren, wo das „Made in China“ kurzerhand mit „Made in Sowieso“ vertauscht wird, um die in internationalen Abkommen festgelegten Ausfuhrquoten zu umgehen. „Passieren wird aber nichts“, meint ein Mitglied der Brüsseler Delegation. Denn die chinesischen Behörden seien kaum daran interessiert, die Exporte zu beschränken – selbst wenn sie dies durchsetzen könnten. Und einige EU-Mitgliedsstaaten, darunter die Bundesrepublik, die keine nennenswerte Textilproduktion im eigenen Land mehr haben, wollten sich deswegen nicht mit China anlegen, sagt er.

„Lassen Sie uns zusammenarbeiten“, sagt Frau Li. „Sie nehmen einige Muster mit nach Deutschland und erkunden den Markt. Sie verstehen nichts von Geschäften? Das kann man lernen.“ Dann lächelt sie und tippt sich an die Stirn: „Viel zu wissen, das ist etwas sehr Schönes. Aber wirklich schön ist es, wenn man dazu noch sehr viel Geld verdient.“