Ein lachendes und ein weinendes Auge

Die PDS kann bundesweit bei den Europawahlen ihren Stimmanteil verdoppeln, sie scheitert dennoch an der Fünfprozenthürde / Im Osten Berlins erreicht sie sogar mehr 40 Prozent  ■ Aus Berlin Wolfgang Gast

Der Dämpfer kommt mit der Prognose. Die Jazz-Kapelle pausiert, die Fernsehgeräte sind laut gestellt – im Hof des Karl-Liebknecht-Haus in Berlin wartet am Sonntag abend um 21 Uhr die PDS auf ihr Abschneiden bei der Europawahl. Es wird eine herbe Entäuschung. Viereinhalb Prozent meldet das erste deutsche Fernsehen. Bewahrheitet sich diese erste Prognose, dann hat die Partei des demokratischen Sozialismus den Einzug ins Europaparlament knapp verpaßt – trotz offener Listen, trotz eines aufwendigen Wahlkampfes, trotz Zugpferd Gregor Gysi.

Dabei hatte alles so gut ausgesehen. Ausgelassen war die Stimmung, nachdem am frühen Abend die ersten Prognosen für die Kommunalwahlen im Osten Deutschlands bekanntgegeben wurden. In Thüringen und Sachsen legte die PDS gute fünf Prozent zu, in Mecklenburg-Vorpommern kam sie mit 25 Prozent fast an das Ergebnis der SPD (27 %) heran, auch für Sachsen-Anhalt meldeten die Wahlforscher eine Stimmenanteil von rund 20 Prozent. „Kann man nicht klagen“, sagte daher der Parteivorsitzende Lothar Bisky. Bei Würstchen und Bier räumte er ein, mit einem so guten Abschneiden nicht gerechnet zu haben, von den 32 Prozent in den großen Städten in Mecklenburg-Vorpommern und den anstehenden Stichwahlen mit PDS-Beteiligung etwa in Magdeburg oder Halle gar nicht zu reden.

Kurz nach der ersten ARD- Prognose meldet das ZDF für die PDS einen Stimmenanteil von 4,9 Prozent. Ein kollektiver Schrei ertönt im eigens für die Wahlparty aufgestellten Bierzelt. Etliche setzten jetzt auf den Genossen Trend. Der Parteisprecher Hanno Harnisch etwa, der hofft, daß es bei der weiteren Stimmenauszählung „erfahrungsgemäß dann noch nach oben geht“. Am Ende reicht es aber für Europa nicht, die Hochrechnungen des ZDF werden nach unten korrigiert. „Europa haben wir als Ziel nicht erreicht“, räumt Lothar Bisky ein, „wir haben die Chance nicht wahrgenommen“.

Die Wahlnacht ist für die mehreren hundert PDSler ein Wechselbad der Gefühle. Ein Hoch, wenn die Ergebnisse der Komunalwahlen eintreffen, ein Tief, wenn es die Hochrechnung zum Straßburger Parlament ist.

Mit Blick auf den Osten Deutschlands stecken die Anwesenden die Euro-Schlappe aber schnell weg. Sollte der Eurowahlgang tatsächlich den Ausgang der Bundestagswahlen im Oktober präjudizieren, dann ist die PDS in der kommenden Legislaturperioden in Bonn vertreten. Die Fünfprozenthürde zu überspringen, das bleibt in greifbarer Nähe. Nahezu sicher ist aber, daß die PDS den Bundestagseinzug über Direktmandate schafft. Jubel kommt auf, als eine halbe Stunde vor Mitternacht die Ergebnisse aus den Berliner Wahlkreisen verkündet werden. Im Osten der Stadt belegt Gysis bunte Truppe bei einer Wahlbeteiligung von etwas über 49 Prozent mit Abstand Platz eins. Hohenschönhausen: 47 Prozent, Lichtenberg: 44 Prozent, Mahrzahn 46 Prozent. Einzelne Wahlkreise in diesen Stadtbezirken zählen bis zu 84 Prozent PDS-Stimmen aus – vergessen, daß die Partei im Westen Berlins bei 2,2 Prozent dümpelt und im übrigen Westdeutschland immer noch unter einem Prozent rangiert. Mit Genugtuung werden auch die Zahlen aus dem Westberliner Bezirk Kreuzberg aufgenommen: Hier erreicht die PDS 6,2 Prozent. Drei Direktmandate sind für ein Verbleiben im Bundestag notwendig. Gregor Gysi nennt nach den Zahlen aus dem Osten fünf bis zehn als realistisch.

Freude und Trauer mischen sich. Wahlkampfleiter André Brie versteigert für 1.000 Mark das symbolische Kfz-Kennzeichen „PDS – 12695“. Ein etwas müder Gysi sinniert vor dem Bildschirm über die Zahlen aus den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Eine junge Frau murmelt leise „Scheiße“, als nach Mitternacht im Eurowahlgang für die PDS 4,7 Prozent errechnet werden. Die Jazz-Kapelle spielt „Good-bye Johnny“.