Europa eint Major und Scharping

■ Die Europawahlen waren nationale Wahlen. Und so werden sie auch betrachtet. Nicht nur in der Bundesrepublik, wo nach diesem Wahlsonntag die Chancen auf eine rot-grüne Koalition deutlich gesunken sind...

Die Europawahlen waren nationale Wahlen. Und so werden sie auch betrachtet. Nicht nur in der Bundesrepublik, wo nach diesem Wahlsonntag die Chancen auf eine rot-grüne Koalition deutlich gesunken sind, guckt die Linke erschreckt auf die Tabellen.

Europa eint Major und Scharping

Schwarz-Grün heißt die (noch) nicht koalitionsfähige Erfolgsfarbe des Wahlsonntages. Bei der größten repräsentativen Meinungsumfrage dieses Jahres, zu der die Europawahlen am Tag danach degradiert wurden, ließ die Union ihre sozialdemokratischen Herausforderer überraschend weit hinter sich, schafften die Grünen erstmals in ihrer Geschichte bundesweit ein zweistelliges Ergebnis. Wenn sich Union und Bündnis90/ Die Grünen am Tag danach dennoch nicht im Siegestaumel verlieren, liegt es am ehesten daran, daß beiden der potentielle Koalitionspartner abhanden zu kommen droht. Den Liberalen bestätigte das Wahlergebnis die seit Jahresbeginn konstant negativen Prognosen, und auch die SPD muß sich keinen Illusionen mehr hingeben: Die Trendwende, die sich parallel zur Konjunkturerholung der letzten Monate bereits angekündigt hatte, darf seit Sonntag abend als gesichert gelten.

Während sich die Liberalen nach ihrem Scheitern an der Fünfprozenthürde als positive Fatalisten präsentieren und auf das „Gesetz der Serie“ verweisen, demzufolge sie ihre besten Ergebnisse noch immer bei den Bundestagswahlen erreicht haben, steht die fulminant ins Wahljahr gestartete SPD vor einem Scherbenhaufen. Rudolf Scharpings Strategie, durch einen moderaten, auf Wirtschaft und Sicherheit setzenden Kurs niemanden zu verschrecken und die Unzufriedenheit „der Mitte“ in SPD-Stimmen zu verwandeln, ist nicht aufgegangen. Das von der amtierenden Regierung nur schwer zu unterscheidende Profil der SPD sorgte nicht nur für die einkalkulierten Stimmenverluste im rot-grünen Wählerspektrum; auch bei den eigentlichen Adressaten Scharpings, der klassischen SPD-Klientel, den Arbeitnehmern sowie enttäuschten Konservativen, holte sich die SPD eine flächendeckende Abfuhr.

So total das Dilemma, so hilflos die Reaktionen. Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen macht die niedrige Wahlbeteiligung und die „mangelnde Mobilisierung“ der SPD-Wähler verantwortlich. Rudolf Scharping versichert, das Ergebnis könne ihn „nicht umhauen“, nun sei eben „die erste Runde“ verlorengegangen. Damit hatten nach den letzten Umfragen die Strategen der Partei zwar gerechnet, doch daß die Union am Ende ganze fünf Prozent vorne liegen würde und die SPD mit 32,2 Prozent ihr bislang schlechtestes Europawahlergebnis erhielt, macht die Desorientierung komplett. Dennoch konnte es kaum überraschen, daß Scharping noch am Wahlabend neuerlich auf stur schaltete. Zwar müsse die SPD die Unterschiede zur Union „noch deutlicher“ herausstellen, doch an der einmal eingeschlagenen Wahlkampfstrategie für den Herbst werde sich nichts ändern. Statt dessen ließ der Vorsitzende und Kanzlerkandidat als einzig wirkliche Erklärung für das Desaster eine Dolchstoßlegende anklingen: Die SPD habe sich in den letzten Wochen „manche Fahrlässigkeiten“ zuschulden kommen lassen und sich wieder wie früher als „diskutierende Partei“ präsentiert. In der bereits im Ansatz erstickten Programmdebatte? Wie auch immer, als Erfolgsgarantie für die Zukunft plädierte Scharping für noch mehr „Geschlossenheit“ seiner Partei. Eine rot-grüne Koalitionsaussage komme auch weiter nicht in Frage. Weil eine Annäherung an die Grünen nicht nur neuen innerparteilichen Streit bedeuten würde, sondern eine jetzt überstürzt grün eingefärbte SPD auch auf die Wähler kaum überzeugend wirken dürfte, kann sich Scharping nach dem spektakulären Fehlschlag dennoch seiner innerparteilichen Stellung sicher sein. Die Bestätigung kommt von Oskar Lafontaine: „Personaldiskussionen gibt es nicht, wer damit anfängt, kriegt eins auf die Rübe.“ Ein bißchen „mehr Zuspitzung“, ein paar veränderte Akzente, mehr Konsequenzen sind von der schockierten SPD am Tag danach offenbar nicht zu erwarten.

Das trübt die Stimmung der erfolgreichen Bündnisgrünen. Daß sie die opulenten Umfrageergebnisse in Europawahlstimmen verwandeln konnten, bringt die Partei kein Stück näher an die Bonner Macht. Zwar läßt sich das SPD-Ergebnis als Bestätigung grüner Kritik am Scharping-Kurs interpretieren. Doch mit Schadenfreude über die erfolglose „Kohl-Kopie“ läßt sich der potentielle Koalitionspartner für Bonn auch nicht aufpäppeln. „Wenn nötig, werden wir für die SPD mitkämpfen“, bietet Grünen-Sprecher Ludger Volmer den Sozialdemokraten Schützenhilfe an, um die schwindende rot-grüne Perspektive für Bonn doch noch möglich zu machen. Das Dilemma im Hinblick auf die grüne Machtteilhabe in Bonn ist klar: Eine rot- grün profilierte SPD würde die Wahlchancen der Grünen eher schmälern. Sie profitieren von Scharpings Mitte-Kurs, den sie einerseits kritisieren und an dessen Erfolg sie dennoch gekoppelt bleiben. Doch die „Abwahl Kohls“, zu der Volmer am Wahlabend neuerlich aufrief, ist nicht in Sicht.

Das hebt des Kanzlers Stimmung. Der konnte nahtlos an seine gute Laune nach der Herzog-Wahl anknüpfen. Aus dem von Scharping versprochenen „vierten Wahlgang“ sei offenbar nichts geworden. Der SPD-Herausforderer solle den Begriff „Auslaufmodell“ aus seinem Vokabular streichen, und die kritische Journaille dürfe künftig nicht mehr allzuviel auf Umfrageergebnisse geben, die „Kanzlerdämmerung“ prognostizierten. So hat er es gern: Sein Erfolg – ein bundesdeutsches Naturgesetz. Kohl bleibt das erfolgreiche Original – für Scharpings Kopistenrolle bleibt der Spott.

Damit es auch im Herbst für die konservativ-liberale Koalition wieder reicht, startet der Kanzler noch am Wahlabend die obligatorische Zweitstimmenkampagne für die FDP. Deren Vorsitzender Klaus Kinkel analysiert das Scheitern seiner Partei an der Fünfprozenthürde denn auch messerscharf: Der „Schub“ des Rostocker Parteitages habe nicht ausgereicht. Ähnlich wie der SPD bleibt auch den Liberalen nichts anderes übrig, als die „herbe Niederlage“ als Bestätigung eines noch nicht belohnten, im Grunde aber richtigen Kurses zu verkaufen. Kinkel verteidigt seine Koalitionsaussage. Ansonsten gelte es zu zeigen, daß die FDP kein Anhängsel der Union sei. Mit deren massiver Unterstützung darf Kinkel dennoch rechnen. Selbst CSU-Chef Theo Waigel zeigte sich nach dem überraschend guten Abschneiden seiner Partei gegenüber den ungeliebten Liberalen generös: Die FDP werde es im Herbst wieder schaffen. Bei Bundestagswahlen, das weiß auch Edmund Stoiber, habe „die FDP immer entscheidend zugelegt“.

Verloren haben die „Republikaner“, die bei den letzten Europawahlen noch auf spektakuläre 7,1 Prozent gekommen waren. Ihr Scheitern wird in allen Parteien mit Erleichterung kommentiert. Während in Italien und Frankreich die Rechtsradikalen zweistellig abschneiden, kommt die von Parteiaustritten gebeutelte Schönhuber- Truppe auf 4,1 Prozent. Ihr zeitweilig schon als sicher prognostizierter Einzug in den Bundestag ist in weite Ferne gerückt.

Mehr als hoffen darf hingegen seit dem Wahlabend die PDS. Der Trend, der sich seit den Brandenburger Kommunalwahlen bereits abzeichnete, läuft für die SED- Nachfolger. Zwar scheiterte die Partei mit 4,7 Prozent knapp an der Hürde. Doch die Ergebnisse im Osten, wo die PDS vor allem bei den Kommunalwahlen in vielen Städten stärkste Partei wurde, lassen Gregor Gysis Hoffnung, man werde bei den Bundestagswahlen weit mehr als die notwendigen drei Direktmandate erreichen, realistisch erscheinen. Die Frustration im Osten geht offenbar voll zugunsten der PDS. Die SPD gewinnt nicht einmal so viele Stimmen hinzu, um die Union als stärkste Kraft auf Landesebene abzulösen.

Das schmälert die Chancen der Sozialdemokraten, die Negativstimmung Ende des Monats durch einen Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt zu korrigieren und die Perspektive auf den Bonner Machtwechsel noch glaubhaft zu machen. Für ihren bevorstehenden Parteitag in Halle jedenfalls werden sich die Sozialdemokraten noch etwas einfallen lassen müssen. Vielleicht doch eine Koalitionsaussage à la Scharping – zugunsten der Union. Matthias Geis