Alles viel schlimmer oder ganz normal?

■ UKE-Skandal: Anwalt bilanziert Chaos / Chefarzt fühlt sich rehabilitiert Von Sannah Koch

Erste Bilanzen zu einem traurigen Jubiläum: Ein Jahr nach Bekanntwerden des „UKE-Strahlenskandals“ bezeichnete Rechtsanwalt Wilhelm Funke gestern das Ausmaß des ärztlichen Fehlverhaltens als „wesentlich gravierender als zunächst angenommen“. Der suspendierte UKE-Chefarzt Klaus-Henning Hübener resümierte Gegenteiliges: Dem Abschlußbericht von Professor Hermann, derzeit Leiter der UKE-Radiologie, sei zu entnehmen, daß keine „konzeptbezogene Überbestrahlung“ vorliege. Von Wissenschaftssenator Leonhard Hajen wird heute ebenfalls eine Stellungnahme erwartet.

Kein Tag ohne Schlagzeilen: Im Sommer –93 war die Strahlenabteilung der Uniklinik Eppendorf durch Pressemeldungen in Verruf geraten. Darmkrebspatienten, so schien es zunächst, waren zwischen 1986 und –90 durch eine „unkonventionelle Strahlentherapie“ des Chefarztes geschädigt worden. Gutachter attestierten Strahlen-Überdosierungen. Nachforschungen förderten weitere Opfer zutage: Inzwischen wurden auch Prostata-Patienten als strahlengeschädigt anerkannt.

Für Funke, der die meisten Patienten vertritt, belegen die Vorfälle: Es „herrscht Chaos“ in der Hamburger Strahlentherapie. Die Zahl der Strahlenschäden beruht für ihn nicht auf der Anwendung einer neuen Methode, sondern auf der fehlerhaften Umsetzung konventioneller Behandlungsformen. Die Durchsicht der Krankenakten habe ihm gezeigt, daß einige Ärzte es mit der Gabe vorgeschriebener Einzeldosen nicht genau genommen hätten. Statt verschriebener zwei Grey hätten sie bis zu 2,5 Grey appliziert – und dies, so Funke, obwohl in den 80er Jahren bereits bekannt gewesen sei, daß Dosen über zwei Grey zu erhöhten Spätschäden führen.

Noch schlimmer findet der Anwalt, daß die drei Strahleninstitute der Hansestadt (UKE-Strahlen- und Frauenabteilung und das AK St.Georg) sich nicht über ihre unterschiedlichen Methoden ausgetauscht hätten. „Hier wurde eine völlig unverständliche Geheimniskrämerei betrieben“, so Funke. Seine Forderung: Den „rechtsfreien Raum“ in der Strahlentherapie beseitigen, in dem künftig nachprüfbare und anerkannte Verfahren vorgeschrieben werden; Abweichungen müßten als Studie angemeldet werden.

Unterdessen fühlt sich Hübener zu Unrecht beschuldigt. Als Beleg dafür führt er den jetzt vorgelegten Bericht seines Nachfolgers an: Die Auflistung beweise, daß die „festgestellten Nebenwirkungsraten im Rahmen anderer vergleichbarer Bestrahlungskonzepte“ lägen. Ergo liege weder ein Serienschaden vor noch ein Konzeptfehler. Es müsse jedoch geprüft werden, „ob es bei der individuellen Umsetzung des fehlerfreien Konzeptes zu einer Überdosierung gekommen sei“.