Vivisektion eines höchst vertrauten Ressentiments

Fremdeln für Anfänger: Muß Yasemin Abitur machen? Fremde im deutschen Kino. Ein Tagungsbericht von den Arnoldshainer Gesprächen  ■ Von Christiane Peitz

Daheim im Wohnzimmer dürfen die Kolleginnen mal anfassen. Sie bestaunen den großen knackigen Mann, seine dunkle Haut, seine Muskeln. „Das ist Ali“, stellt Emmi ihren Gatten vor und strahlt, weil die anderen endlich wieder nett zu ihr sind. Eine Szene aus Fassbinders „Angst essen Seele auf“ (1973), der Geschichte von der älteren deutschen Putzfrau (Brigitte Mira), die einen weit jüngeren Marokkaner heiratet (El Hedi ben Salem). Nachbarschaft, Familie und Arbeitskolleginnen reagieren mit Aggression und Ausgrenzung. Der Rassismus der anderen schweißt die beiden zusammen, aber als der äußere Druck entfällt, weil über Nacht plötzlich alle wieder nett sind, wird die gegenseitige Fremdheit des Liebespaars zum Problem.

Gruppenbild mit wechselnden Fremden

Vorurteile, Diskriminierung, Fremdenhaß und die Grenzen der Integration studiert Fassbinder wie in einem Planspiel, dessen Versuchsanordnung jeder auftretenden Person wenigstens einmal die Rolle des Fremdlings zuschreibt. Extrem stilisierte Bilder setzen den Rahmen für eine emotional aufgeladene Authentizität; schockierende Nacktheit erstarrt im nächsten Moment zum Stilleben mit Doppelakt.

So entfremdet Fassbinder zuletzt noch das Intimste, den eigenen Körper. Die bittere Bilanz seiner Vivisektion in Sachen Ressentiment: Noch die nüchternste Betrachtung, noch die günstigsten äußeren Bedingungen kommen dem Irrationalen in der Reaktion auf das Fremde nicht bei.

Fassbinders beklemmendes Melodram eröffnete die Arnoldshainer Filmgespräche zum Thema „Getürkte Bilder – Zur Inszenierung von Fremden im Film“, die – zwecks notwendiger Selbstbeschränkung – ausschließlich deutsche Produktionen zur Diskussion stellten: Hark Bohms populistischen Film „Yasemin“ (1988), Helma Sanders-Brahms' linke Solidaritätsnote „Shirins Hochzeit“ (1975) und Lars Beckers Gangsterfilm „Schattenboxer“ (1992).

Der Fremde als komischer Kauz

Wer ins Kino geht, will sehen, was er noch nicht kennt. Dem Zuschauer wird nahegebracht, was ihm fernliegt; umgekehrt erscheint ihm das Vertraute in befremdlichem Licht. Knut Hickethier führte in seinem Referat aus, daß die Konstruktion des Fremden und die Konfrontation des Regulären mit dem Außergewöhnlichen ein Grundmuster filmischen Erzählens sei. Im Feindbild der Filme in der Tradition des Kalten Kriegs tritt der Fremde als Bedrohung auf. Das vom Patriarchat unterdrückte türkische Mädchen Yasemin verkörpert die Fremde als Schutzbedürftige, als Opfer, das gerettet werden muß. Mit den Indianern im Western sind die Fremden schlicht die primitivere Kultur, der die eigene überlegen ist. Und Ali im Wohnzimmer: der Fremde als komischer Kauz. Bei all diesen Grundmustern, so Hickethier, bleibe die Inszenierung des Fremden Projektion.

Als dem Referenten, während er von der Angst vor dem anderen sprach, ausgerechnet der Personalausweis aus der Brusttasche rutschte, kam das Irrationale immerhin eine Sekunde lang zum Vorschein. Und als die Zuhörerin beim Vortrag des indischen Philosophieprofessors Ram Adhar Mall vor lauter Differenzhermeneutik, Interkulturalität und reziprokem Respekt an ihrem Verstand zu zweifeln begann, fiel irgendwann bloß noch die eine Geste ins Auge.

Universitäres Brillenzurechtrücken

Die Geste, mit der Mall unentwegt seine Brille zurechtrückte, als Geste eines europäischen Intellektuellen. Daß ich einem abstrakten, universitären Diskurs nur schwer zu folgen vermag, war mir vertraut. Dieselben Fremdwörter, von einem Fremden benutzt, irritierten mich. Wenn dieser Fremde dann noch einen vertrauten Handgriff wiederholt, ist meine Verwirrung komplett.

Über Ali erfahren wir in Fassbinders Film nichts, um so mehr über die Vorurteilsstrukturen von deutschen Spießern. Helma Sanders und Hark Bohm glauben mehr zu wissen. Wenn in „Shirins Hochzeit“ der Leidensweg einer türkischen Gastarbeiterin von der Off-Stimme einer fiktiven deutschen Freundin begleitet wird, die sogar Shirins Gedanken besser kennt als die Heldin selbst, dann ist unter dem Deckmäntelchen der Betroffenheit eine Entmündigungs- und Erlösungsstrategie am Werk, derzufolge die Rassisten immer die anderen sind, während wir Linken ja wissen, was für die Fremden gut ist.

Die Filmkritikerin Heike Kühn führte aus, daß ein Blick wie der von Tefvik Baser in „40 qm Deutschland“, der das uns Unverständliche eben nicht qua Solidarität wegdefiniert, sondern es selbst nicht versteht, nach wie vor die Ausnahme ist. Die Diskussion erhitzte sich vor allem an Bohms „Yasemin“ und der Frage, ob die klassischen Genres wie Thriller oder Liebesfilm der Darstellung des Fremden überhaupt angemessen seien. Aber die Direktive, daß kein Happy-End sein darf, solange die Welt schlecht ist, grenzt den Fremden erst recht aus und billigt ihm wieder nur einen Sonderstatus zu: Statt getürkter Bilder neue Genres.

Eine paradoxe Wendung: Plötzlich ging es nur noch um political correctness. Seien wir tolerant, bemühen wir uns um Verständnis, um das Selbstverständliche. Zwar bleibe Normalität angesichts von Rostock und Solingen vorerst Wunschdenken, aber wünschen täte man sie schon.

Lars Beckers „Schattenboxer“, der im Rahmen einer Gangsterstory auch ein türkisches Bandenmitglied einführt, ohne daß dessen Türke-Sein eine Rolle spielt, avancierte schließlich zum Idealfall einer gelungenen filmischen Integration der Ausländerproblematik. Auch über den Umstand, daß die deutsche Abschiebepraxis am Rande vorkommt, jedoch nie ins Zentrum der Handlung rückt, war das Plenum des Lobes voll. Auf die konventionellen Bilder vom Bandenkrieg samt Männermut und vom wehrlosen Ghanaer in Abschiebehaft, der mal eben sterben muß, weil er in der Kriegshandlung nichts mehr zu suchen hat, kam man gar nicht erst zu sprechen. Mal abgesehen davon, daß das Gangstermilieu im Kino schon immer Multi-Kulti war.

Was wäre denn, so Christiane von Wahlert, Pressesprecherin von Frankfurts Kulturreferentin Linda Reisch, wenn man sich kennenlernt, und man stellt fest, daß man sich nicht mag? Was ist mit dem Konfliktpotential, das beim Zusammentreffen verschiedener Kulturen spätestens dann zutage tritt, wenn der Wille zur Toleranz sich mit den Menschenrechten nicht vereinbaren läßt? Wofür soll man sich in „Yasemin“ entscheiden, für den Respekt vor dem Ehrbegriff des türkischen Vaters oder für das Recht der Tochter, Abitur zu machen? Was ist mit den Studien des Soziologen Richard Sennett, der in der multikulturellen Gesellschaft New Yorks beobachtet hat, daß es trotz weniger Rassismus weniger Mischehen, trotz Kommunikationszeitalter weniger Kontakt unter den Minderheiten gibt als zuvor? Wahlert zitierte Sennetts Satz von der Toleranz der Differenz, die letztlich zur Indifferenz führe, nach dem Motto: Jetzt hat jeder Telefon, aber keiner ruft mehr an.

Konsequent zu Ende gedacht bedeutete das Postulat der „normalen“ Betrachtung des Fremden im Kino ebendessen Ende. Hundertprozentige Aneignung hat dieselben Folgen wie Ausgrenzung: im schlimmsten Fall die Zerstörung des Gegenübers, im harmlosesten Ignoranz. Wenn schon der befremdete Blick an sich diskriminierend ist, läßt sich zur Differenz zwischen mir und dem anderen nichts mehr zeigen. Operation gelungen, Patient tot.

Die Faszination und der Schock des Fremden, der nichtintegrierbare Rest, das, wovon sich kein Bild machen, was sich nicht verstehen oder nicht akzeptieren läßt, blieben in Arnoldshain ausgespart. „Diskurse zwischen Kulturen dürfen das Ende des Gesprächs nicht vorwegnehmen“, hatte Mall in seinem Vortrag gemahnt. Gespräche über diesen Diskurs eigentlich auch nicht.