Unschuld und Tabu

Der auf dieser Seite abgedruckte Text ist ein Auszug aus dem Aufsatz „Unschuld und Tabu“, den der polnische Sozialwissenschaftler Aleksandr Smolar 1987 in der Zeitschrift „Babylon“ erscheinen ließ. Smolar, selbst polnischer Jude, emigrierte nach der antisemitischen Kampagne des Jahres 1968 nach Frankreich. Er arbeitete später am französischen Forschungsinstitut CNRS und wurde zu einem führenden Vertreter der laizistisch- demokratischen Exilpublizistik. Nach der „Wende“ des Jahres 1989 war er Berater der Regierungen Mazowiecki und Suchocka. Gegenwärtig schreibt er, auch zum Thema der polnisch-jüdischen Beziehungen, u.a. in der Zeitung „Gazeta Wyborcza“, deren Herausgeber Adam Michnik 1968 ebenfalls Opfer der nationalistisch-antisemitischen Hysterie wurde. Michnik blieb nach 68 in Polen – im Gefängnis. Smolars Text liefert eine Reihe von Daten und Einschätzungen über das Verhältnis der jüdischen Kommunisten zum polnischen Staats- und Unterdrückungsapparat, die für die Beurteilung des „Falles“ Marcel Reich-Ranicki nützlich sind.

Der Text erhellt die Motive, aus denen heraus sich die kommunistisch gesteuerten Sicherheitsbehörden mit Vorliebe jüdischer Kader bedienten und was die überlebenden Juden oft dazu bewegte, der Sache der Kommunisten zu Willen zu sein.

Die von Smolar erwähnten Fakten dienten im Nachkriegspolen der Konstruktion eines antisemitischen Stereotyps: die Juden hätten sich der russischen Fremdherrschaft als Henkersknechte zur Verfügung gestellt, um sich an den polnischen Patrioten zu rächen und die polnische Identität zu zerschlagen. Nach Smolar war der Eintritt in den Sicherheitsapparat für einen polnischen Juden, der den Holocaust überlebt hatte, ein nachvollziehbarer, zumindest aber ein verständlicher Schritt. Dies um so mehr, als in den ersten Nachkriegsjahren der Machtapparat einen in Grenzen pluralistischen, „integrativen“ Kurs verfolgte. Erst im Frühjahr 1949 wurde der Militärapparat gereinigt und das Terrain für die Spionageprozesse bereitet, denen 1950 eine große Zahl von Offizieren, darunter auch „Remigranten“ zum Opfer fielen. Wollte man Marcel Reich-Ranicki der Mitwirkung an diesem Verbrechen bezichtigen, so müßte man nachweisen, daß er als Konsul und Geheimdienstmann an einem entsprechenden Komplott beteiligt war. Dieser Nachweis ist bislang nicht einmal im Ansatz versucht worden. C.S.