Spurensuche auf stillen Schlachtfeldern

Ruandas verlassene Häuser erzählen oft mehr über die lange Geschichte des Krieges als Menschen  ■ Von Bettina Gaus

In der ruandischen Gemeinde Mulindi liegt ein weißgekalkter Bauernhof, sorgfältig und liebevoll gebaut. Drei Treppenstufen führen von außen direkt ins blaugestrichene Wohnzimmer. Auf dem Vorplatz bietet ein Wellblechdach Schutz vor Sonne und Regen. Hier beherbergt die Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) ihre Gäste: Reporterinnen, Fotografen, Kameraleute.

Das kleine Gehöft ist mitten im Wald gelegen. Allzu hohe Bananenstauden und mit Unkraut überwucherte Felder verraten, daß hier schon lange keine Landwirtschaft mehr betrieben wird. In den Stallungen liegt Unrat, die Türen sind herausgerissen. Der Blick reicht trotz dichten Baumbestandes bis tief hinunter ins Tal, das bis in den Vormittag hinein von dichten Frühnebeln verschleiert wird. Wo ist die Familie heute, für die dieser Blick Heimat bedeutet hat?

Schon 1991, wenige Monate nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Ruanda, hat die RPF das unweit der Grenze zu Uganda gelegene Mulindi erobert und zu ihrem Hauptquartier gemacht. Auch nach dem Friedensvertrag von Arusha, den die Konfliktparteien im August 1993 unterzeichnet hatten, war diese Region unter Kontrolle der Rebellenbewegung geblieben. Wenn der Bauer, der den kleinen Hof bewirtschaftet hat, noch lebt, dann ist er wohl schon vor Jahren geflüchtet. Aber war er überhaupt der rechtmäßige Besitzer? Oder hat das Anwesen in noch weiter zurückliegender Vergangenheit einem anderen gehört – einem Bauern der Bevölkerungsminderheit der Tutsi vielleicht, die zu Hunderttausenden Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre ins Ausland geflohen sind? Damals waren die Tutsi nach jahrhundertelanger Feudalherrschaft in einer blutigen Revolution von der Hutu-Mehrheit von der Macht vertrieben worden.

Die Sehnsucht der Exilanten nach Ruanda war Anstoß zur Gründung der RPF gewesen, denn das Regime des Präsidenten Juvénal Habyarimana hatte sich jahrelang gegen die Rückkehr der Flüchtlinge mit allen Kräften gewehrt. In dem am dichtesten besiedelten Land Afrikas gebe es keinen Platz mehr, so erklärte die Regierung. Das war nicht nur ein Scheinargument: Die Teilung der Höfe durch Erbfolge hat dazu geführt, daß heute die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe über höchstens einen halben Hektar Nutzfläche verfügen – zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel.

Wer wird nach dem Ende des Bürgerkrieges Anspruch auf den kleinen Bauernhof im Wald erheben? Strom und fließendes Wasser gibt es hier nicht. Der Hof hat seine Bewohner nicht reich gemacht. Und dennoch gibt es viele, die ihn gern besitzen möchten.

Im Friedensvertrag von Arusha war vereinbart worden, daß die Exilruander zurückkehren könnenm, wenn sie es wünschen. Viele träumen davon schon ihr ganzes Leben. Der RPF-Soldat Jonny Rutah ist 1966 in Zaire geboren. Er betrachtet aber Ruanda als sein Zuhause: „Die Sprache ist meine Muttersprache. Und in der Schule haben mich die anderen Kinder immer den Ruander genannt.“ Er will sich nach dem Krieg in der Heimat seiner Vorfahren ansiedeln, zusammen mit seiner Mutter.

Die Ausländer sind fort, jetzt kommen die Waisen

In Gahini, 80 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kigali, hat die RPF eine weitere Basis. Das Zentrum mit Berufsschule, Behindertenwerkstatt und Krankenhaus ist von der Rebellenbewegung erst vor wenigen Wochen erobert worden. Journalisten schlafen hier in einem Haus, das noch deutliche Spuren der früheren Bewohner aufweist: Ein Druck von Monet hängt an der Wand, englischsprachige Bücher stehen im Regal, im Garten hängt eine Schaukel.

„Ein britischer Arzt hat hier gewohnt“, erklärt Firmin Gatera von der RPF. „Wir haben ihn gebeten zu bleiben, obwohl wir ihn nicht hätten bezahlen können. Aber wir hätten ihn gebraucht.“ Der Mediziner sei zunächst bereit gewesen, in Gahini weiterzuarbeiten. „Aber nach einem Gespräch mit der britischen Botschaft ist er dann doch gegangen.“ Insgesamt sind 4.000 Ausländer nach dem Tod Habyarimanas am 6. April aus Ruanda evakuiert worden. Die meisten hätten jeden Anspruch auf Gehalt und soziale Sicherheit verloren, wären sie freiwillig geblieben. In Bürgerkriegsgebieten wird sogar der Schutz normaler Krankenversicherungen hinfällig.

Der Arzt hatte drei Kinder. Jetzt wohnen im Kinderzimmer des Hauses in Gahini drei andere kleine Mädchen: Kriegswaisen, von RPF-Soldaten geborgen. Eines der Kinder ist etwa zwölf Jahre alt. Die Beine des Mädchens sind dünn wie Stöcke. „Sie hat in Kigali wochenlang ohne Essen überlebt“, erzählt Firmin Gatera. „Jetzt ist sie seit zwei Wochen hier und erholt sich langsam. Sie kann sogar wieder lachen. Aber sie hat alles aus ihrem früheren Leben vergessen. Sie weiß nur noch, daß Männer gekommen sind, die sie mit Macheten angegriffen haben. Als sie kam, hatte sie eine Kopfwunde.“

Die meisten der insgesamt 500.000 Toten der letzten zwei Monate sind von Milizen der ehemaligen Einheitspartei Habyarimanas und Teilen der Armee umgebracht worden. Berichte von Flüchtlingen, auch die RPF verübe Massaker, konnten bisher nicht bestätigt werden. Mit einer Ausnahme: In Kabgayi, der größten Missionsstation Ruandas, ist der Bischof Taddee Nsengiyumva gemeinsam mit zwölf anderen Geistlichen von RPF-Soldaten ermordet worden.

Im Rundfunksender der RPF wurde das Massaker verurteilt. Es hieß, die Soldaten hätten die Geistlichen für Massaker an ihren Familien verantwortlich gemacht. Mehr als 10.000 Flüchtlinge hatten sich in Kabgayi versammelt. Aber sie waren nicht in Sicherheit: Bis die Rebellen Ende Mai dort einmarschierten, wurden jeden Tag Hilfesuchende aus dem Lager verschleppt und umgebracht.

Hätte der Bischof die Morde verhindern können? Er hat im Gespräch viel Verständnis für den Kampf des Regimes gegen die RPF gezeigt. Aber er hat auch Notleidende auf dem Kirchengelände beherbergt, ohne nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer politischen Überzeugung zu fragen: „Das ist nicht meine Aufgabe“, erklärte er. Es war auch das Verdienst des Bischofs, daß die Öffentlichkeit vom Elend der Flüchtlinge in Kabgayi erfuhr: Ausländische Journalisten bekamen Zimmer in der Missionsstation zugewiesen, nur durch eine Hauswand von den Notleidenden getrennt.

Ein Blick aus dem Fenster offenbarte erbarmungslose Not. Die meisten Flüchtlinge schliefen, in graue Decken gehüllt, auf der nackten Erde. Trockener, quälender Husten aus Hunderten von Kehlen war im Gästehaus der Mission die ganze Nacht zu hören. Die Flüchtlinge waren vor Kälte und Regen nicht geschützt, anders als die Gäste der Missionsstation: In deren Zimmern standen Betten, Sessel und Schreibtische. Die Welt schaut dem Leiden in Ruanda nur zu. Auch vor Ort.