Kinder? Ledig? Lesbisch!

Eine Nichtgeoutete bei einem Klassentreffen in der Provinz  ■ Von Karin Kenter

Meiner Reise in die Vergangenheit nach Deichgraben stand nur eines im Wege: die Angst vor der einen Frage, die den Abtrünnigen unerbittlich gestellt wird: „Schon in festen Händen?“

Ob ich beim Klassentreffen weiter lügen sollte oder nicht, beschäftigte mich schon vorher wochenlang. Eigentlich geht es niemanden etwas an, sprach die eine innere Stimme. Aber das Weiterlügen ist unerträglich, schnauzte eine andere Stimme zurück. Hinterher stellte sich übrigens das Gefühl ein, daß das Leben banal ist. Und die Erkenntnis, daß Hella von Sinnen, Biolek und all die anderen, die in den letzten Jahren das Thema Homosexualität bis ins kleinste ostfriesische Teestübchen getragen haben, zu einer Entdramatisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe erheblich beigetragen haben – mehr als ich dies, aufgewachsen als achtes Kind einer zutiefst gottgläubig-protestantischen Familie, früher jemals zu träumen gewagt hätte.

Als ich im Alter von 14 Jahren meine Homosexualität entdeckte, befand sich diese innerhalb der Katastrophenskala von Deichgraben auf der gleichen Höhe wie Drogenabhängigkeit und Kriminalität. Ich hatte alles unterdrückt, was sich homoerotisch in mir regte. So lange, bis es nicht mehr ging. Dieser Zustand trat mit 16 Jahren ein. Ich saß auf der Bettkante im Zimmer meiner älteren Schwester – und beichtete. Ihr Kommentar: „Und? Wo ist das Problem?“ Der göttliche Blitz war ausgeblieben.

All dies ging mir durch den Sinn, als ich in Deichgraben angekommen war und das Lokal „Zum Deichgrafen“ betrat. Alle anderen saßen schon, im Erzählfluß badend oder gelangweilt, am rustikalen Biertisch. Nach der allgemeinen Begrüßung und dem obligatorischen Begutachten („Dich hätte ich nicht wiedererkannt!“ – was immer das heißen mag) setzte ich mich zwischen Carola, Bankkauffrau (ein Kind), und Johannes, Installateur (ein Kind). Im Laufe des Abends hörte ich mir ungefähr acht Lebensgeschichten in Kurzform an. Nur zwei Mädchen hatten Deichgraben verlassen, alle anderen lebten hier mit ihren Familien. Die meisten Frauen arbeiteten halbtags. Wie sehr ich mich auch bemühte, wir fanden kein gemeinsames Thema. Zudem waren sie recht einsilbig – mit Ausnahme der wie immer adrett gekleideten und munteren Carola („Wir bauen gerade“) und von Anja, einer diplomierten Religionswissenschaftlerin, jetzt Kassiererin bei Ikea, die darüber klagte, daß die evangelische Kirche kein Interesse an einer Wissenschaftlerin habe. Mindestens zehnmal referierte ich, was sich bei mir in den letzten fünfzehn Jahren beruflich so zugetragen hatte – eine persönliche Frage, die ich befürchtete und doch erwartete, stellte mir niemand. So, als würden sie „etwas ahnen“.

Spätestens als jemand einen Zettel rumgehen ließ, auf dem die Adressen und der Familienstand eingetragen werden sollten, wußte ich, daß meine Stunde gekommen war. Unter der Rubrik „Familienstand“ schrieb ich: „Dreimal geschieden, 10 Kinder.“ Auch darauf reagierte niemand. Nun denn, es sollte wohl nicht sein. Die ganze Aufregung war umsonst. Und dann kam sie blitzartig, die Frage: „Wir sind ja jetzt schon alle über dreißig“, holte Carola aus. Was sollte ich dazu sagen? Carola legte nach: „Schon gut, wenn man dann in festen Händen ist.“ Auch hierzu fiel mir partout nichts ein.

Dann rückte sie mit der Frage raus, wie es denn mit mir sei. „Ich bin in festen Händen, aber ich kann nicht heiraten.“ Carola schaute mich fragend an, die Antwort verstünde sie nicht. Der bierselige Geräuschpegel am hinteren Teil des Tisches wurde hörbar schwächer. „Ich glaube, wenn ich in Holland oder in Skandinavien leben würde, ginge das irgendwann. Aber ich will übrigens auch gar nicht heiraten.“ Der Groschen fiel einfach nicht! Niemand sagte etwas. Ich holte tief Luft, mein Herz fing heftig an zu pochen, wie früher, wenn ich quer über den Bock meiner hochverehrten Sportlehrerin in den Arm sprang. So locker wie möglich sagte ich: „Ich kann meine Freundin schon aus juristischen Gründen nicht heiraten.“

Das Schweigen war nun umfassend. Ich blickte noch tiefer ins Bierglas, vielleicht auch auf den Boden. Wie ein kleines Mädchen, das etwas Verbotenes gesagt hat. „Und Kinder?“ setzte Carola noch mal nach. „Kinder hätte ich sehr gerne.“ Mich überfiel plötzlich eine alberne Traurigkeit.

Ich hob meine Augen erst wieder, als sich hinten der Geräuschpegel wieder gehoben hatte. Dann ging's zurück zur Stahlkrise und zur Politik Bill Clintons. Ich gehörte zu den letzten, die den „Deichgrafen“ verließen. Gerne wäre ich betrunken gewesen. Aber das Bier hatte einfach nicht gewirkt.