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Eine Chronologie des Schreckens

■ Vor zehn Jahren wurde die Giftküche „Boehringer-Moorfleet“ geschlossen. Chronik einer schier unendlichen Geschichte

1951 nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Der Chemieriese „C.H.Boehringer Sohn“ nimmt in Moorfleet die Produktion des Insektenvernichtungsmittels Lindan (HCH) und der sogennanten „T-Säure“ auf. Dabei handelt es sich um eine Grundsubstanz für Pflanzenvernichtungsmittel, bei deren Herstellung das Seveso-Dioxin TCDD abfällt. 1953 tauchen die ersten Fälle von Chlorakne bei einigen an der „T-Säure“-Produktion beteiligten Arbeitern auf; ein Jahr später sind bereits 30 Boehringer-Mitarbeiter durch die Krankheit für ihr Leben gezeichnet.

Im Juni 1954 wird die Produktion der Säure gestoppt, doch bereits 1957 wird sie wieder aufgenommen. Ein neues Verfahren soll eine Produktion ohne den Ausstoß des Dioxins TCDD garantieren, das man inzwischen als Verursacher der Chlorakne entlarvt hat.

1972 weist die Gesundheitsbehörde erstmals darauf hin, „daß an dem Wasser aus dem Beobach-tungsbrunnen neben der Werkseinfahrt der Firma Boehringer ein sehr starker Geruch nach Schädlingsbekämpfungsmitteln“ auffalle. Sieben Jahre später werden hohe HCH-Konzentrationen im Blut eines Boehringer-Arbeiters und in der Kuhmilch aus den Vier- und Marschlanden gefunden.

Das Gemüse aus dieser Region darf anschließend nicht mehr verkauft werden. Doch Hamburgs damaliger Umweltsenator Wolfgang Curilla sieht noch immer keine „rechtlichen Möglichkeiten zur Schließung des Werks“. Das ändert sich auch nicht, als Anfang der achtziger Jahre große Mengen des Insektizids im Moorfleeter Kanal und auch im Einzugsbereich des Wasserwerks Kaltehofe gefunden werden.

Erst fünf Jahre später ist es soweit: Nach etlichen staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren und Demonstrationen gegen die Moorfleeter Giftküche schließen sich deren Pforten am 18. Juni 1984 für immer - die erste Werksschließung der Republik aus ökologischen Gründen. Die Umweltbehörde hatte vorher umfangreiche Umweltauflagen gegen das Werk erlassen, das Hamburger Verwaltungsgericht einen Produktionsstop für alle dioxinhaltigen Substanzen verfügt.

Erst nach und nach wird das gesammte Ausmaß der gesundheitlichen Folgen für die ehemaligen Werksarbeiter sichtbar, von denen viele an Krebs erkranken. Sechs Jahre dauern die Verhandlungen zwischen dem Hamburger Senat und Boehringer um ein Sanierungskonzept. Im Sommer 1990 erklärt sich der Chemie-Konzern schließlich bereit, sein ehemaliges Werksgelände bis Anfang 1995 zu sanieren und stellt dafür 142,8 Millionen Mark zur Verfügung.

Am 16. April dieses Jahres enthüllt die taz: Die geplante Sanierung des verseuchten Geländes ist gescheitert. 120 Millionen Mark der Sanierungsgelder sind verbraucht, aber nur rund 10 Prozent der Altlasten abgetragen. Deshalb soll das Werksgelände eine Chemiemüllhalde bleiben, die nur noch mit einer Dichtwand eingekapselt wird, um den weiteren Austritt der im Boden schlummernden Ultragifte in die Umgebung zu verhindern.

Denn eine Rechtsgrundlage, mit der die Firma Boehringer gezwungen werden könnte, die Sanierung des von ihr verseuchten Werksgeländes trotz explodierender Kosten abzuschließen, gibt es nach Auffassung der Umweltbehörde nicht. Erst nach der Einkapselung, für die der Chemiekonzern jetzt noch einmal 40 Millionen Mark zur Verfügung stellt, soll die Sanierung der umliegenden Grundwasserleiter in Angriff genommen werden. Rund 15 Jahre nach der Werksschließung.

Marco Carini

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