Alle Fragen offen

Marcel Reich-Ranicki las am Freitag in München aus seinem Buch „Die Anwälte der Literatur“  ■ Von Thomas Pampuch

Wäre die ganze Sache nicht so traurig – oder widerrwärrtig, wie sie der Meister des rollenden Rs nennt –, man könnte es für eine klug inszenierte Promotion für das neuste Buch Marcel Reich-Ranickis halten.

Zum ersten öffentlichen Auftritt von MRR seit Bekanntwerden seiner Geheimdienstverwicklung vor gut 45 Jahren jedenfalls strömten am Freitag abend – trotz des gleichzeitig stattfindenen WM- Eröffnungsspiels – über fünfhundert Leute in das Münchner Theater an der Leopoldstraße. Viele mußten draußen bleiben, die Karten für das von der verdienstvollen Schwabinger Buchhandlung Lehmkuhl organisierte Ereignis waren in wenigen Stunden ausverkauft. Auch alle hundert Exemplare des Buches „Die Anwälte der Literatur“, die man ins Theater gebracht hatte, waren weg, noch bevor Reich-Ranicki auch nur auf die Bühne geklettert war, um es vorzustellen. Nichts ist verkaufsfördernder als ein Skandal – und sei es ein an den wenigen Haaren des Kritikerpapstes herbeigezogener.

Jude, Ex-Kommunist, FAZ- Großinquisitor, Pik-As des literarischen Quartetts, Temperamentsbolzen, charmantester Deutschlehrer der Nation und jetzt auch noch mit schattigen Punkten in der Vergangenheit ausgestattet, da mußte man hin. Hat er oder hat er nicht, war er oder war er nicht? Je obskurer die Vorwürfe, desto heller die Aufregung. Zum „I hob an Pabst g'seng“ gesellte sich die Neugier, einem öffentlich Gebeutelten ins vielleicht unstete Auge zu blicken.

Was dem Teenie sein Michael Jackson, ist dem Feuilletonleser dieser Tage sein Reich-Ranicki. Nicht um Kleine-Jungs-Zirkel geht es, sondern um große Agentenringe. Verrat im 20. Jahrhundert, und einer unserer Großen mittendrin.

Der Konsul soll erzählen

Angesichts solcher Neugier tat Marcel Reich-Ranicki, was er konnte – und er kann viel –, um das Interesse an seiner Person in ein Interesse an der Deutschen Literaturkritik von Lessing bis Joachim Kaiser umzupolen. Darüber hat er ein geistreiches Buch geschrieben, und darüber parlierte er – so witzig, frei und engagiert, daß man nach kurzer Zeit nicht mehr an die polnische Nachkriegspolitik dachte – von der in Deutschland ohnehin nur sehr wenige etwas verstehen. Was hätte Reich-Ranicki auch sonst tun sollen?

Zwar hofften viele insgeheim, er würde vielleicht in einer aufsehenerregenden Stellungnahme alle Verleumdungen Lügen strafen können, doch wie sollte er? Daß er in seiner Zeit als polnischer Konsul in London „niemandem geschadet und – wahrscheinlich – auch niemandem genutzt“ hat, die Erklärung hat er nun wirklich oft genug abgegeben. Bis ihm jemand wirkliche Schweinereien nachweist – was bisher keiner auch nur annähernd vermocht hat –, soll er zuförderst einer jener großen „Anwälte der Literatur“ bleiben, von deren Genealogie in Deutschland sein Buch handelt. Und natürlich soll da auch mit ihm gestritten werden.

Eins aber könnte die Affaire im positiven Sinne vielleicht doch bewirken. Wir haben nicht viele in Deutschland mit einer vergleichbaren Vita. Und wir haben nicht (mehr) viele, die aus erster Hand über die aufregenden und dunklen Zeiten des europäischen Nachkriegsstalinismus, seine Irrungen und Wirrungen, seine persönlichen und politischen Zerstörungen und Verbrechen berichten können.

Deshalb: Eh' sie dich meucheln, Konsul, erzähl' uns Nachgeborenen lieber, wie es denn nun wirklich und eigentlich gewesen ist in Berlin, in London und im Polen jener Jahre. Erzähl' uns, Zeuge des Jahrhunderts, über die enttäuschten Hoffnungen, die Betonköpfe und die Renegaten, die Verbrecher und die Opfer, über the god that failed und die „Sonnenfinsternis“. Das ist doch ein Stoff, der immer noch und immer wieder nach (vielleicht gar literarischer) Verarbeitung schreit.

Das interressiieerrt uns doch mächtig. Es muß ja nicht sozialistischer Realismus sein. Los Papst, den Vorhang auf und alle Fragen offen.