Jelzin-Ukas weckt alte Ängste

Erlaß des russischen Präsidenten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität spaltet die Gemüter / Kriminelle vereinen sich indessen zu Freßgelage in Moskauer Gefängnis  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Russische Milizen und Geheimdienste haben widersprüchlich auf Präsident Boris Jelzins Ukas zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vom letzten Dienstag reagiert. Inzwischen setzen die bewaffneten Moskauer Banden ihren Krieg gegen die Firma AwtoWas fort, die in Zeitungsanzeigen astronomische Belohnungssummen für Informationen über Mafia-Aktivitäten verspricht. Eine Bombe explodierte am Donnerstag in einer Bank der Firmengruppe. Dank der hier geheiligten Institution der „Mittagspause“ wurde nur eine Angestellte verletzt.

Dem umstrittenen Ukas zufolge darf die Polizei künftig Menschen bis zu dreißig Tagen in Untersuchungshaft halten. Demgegenüber wird in der neuen Verfassung eine Frist von 48 Stunden genannt, als Übergangslösung sind noch vierzehn Tage gestattet. Für Haussuchungen brauchen die Sicherheitsorgane nach dem präsidialen Erlaß keinen gerichtlichen Beschluß und keine Zeugen mehr. Diverse Behörden werden bevollmächtigt, nicht nur die Bankkonten einschlägig verdächtiger BürgerInnen einzusehen, sondern aller Leute, die in den letzten fünf Jahren mit ihnen zusammengelebt haben. Auch die Armee soll in den Kampf gegen die Banden einbezogen werden.

Die Rechtsschöpfungen des Präsidenten aktivierten die Duma. Am Freitag stimmten alle Fraktionen mit Ausnahme der ordnungsliebenden Schirinowski-Partei gegen den Ukas. Das Parlament will die gesetzgeberische Initiative nun selbst übernehmen und einen vorliegenden Entwurf für einen neuen Kriminalkodex unverzüglich verabschieden. In dem Konflikt zwischen Duma und Präsident könnte nur das Verfassungsgericht entscheiden, das noch nicht wieder gebildet wurde.

Menschenrechtsorganisationen warnen, daß der Ukas unweigerlich zum Amtsmißbrauch seitens der Sicherheitsorgane führen werde. Nicht selten machen die Hüter des Gesetzes schon heute bei Haussuchungen lange Finger. Immer wieder werden Fälle von Folter in russischen Untersuchungsgefängnissen bekannt. „Das ist das Jahr 1937, wie es leibt und lebt“, sagte Gennadij Sjuganow, der Führer der Kommunistischen Partei im Parlament, in Anspielung auf den Stalinschen Terror.

Während Milizionäre der unteren Ränge und ein Sprecher des Föderalen Gegenspionagedienstes diese Erweiterung ihrer Vollmachten begrüßten, erklärten Vertreter der Moskauer Hauptverwaltung des Innenministeriums, sie würden sich auch künftig nur an das Gesetzbuch halten. Der Leiter der Moskauer Sondereinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, Wladimir Ruschajlo, illustrierte am Sonnabend im lokalen Fernsehprogramm die mangelnde Vertrauenswürdigkeit der Miliz. Er bestätigte Gerüchte, denenzufolge hohe Autoritäten der Unterwelt, sogenannte „Räuber vor dem Gesetz“, kürzlich im Moskauer Butyrka-Gefängnis ein Gelage abgehalten haben. Sechs mit Delikatessen beladene Personen, darunter Vertreter der Mafia des Vorortes Solnzewo, besuchten zwei dort einsitzende georgische „Räuber“. Sämtliche Posten, die sie auf ihrem Weg zu passieren hatten, waren gekauft. Die Personengruppe konnte durch das Zusammenspiel mehrerer Sicherheitsdienste in flagranti verhaftet werden. Die vollgefressenen „Räuber“ leisteten keinen Widerstand.

Besonders besorgt zeigt sich die Geschäftswelt über die im Ukas vorgesehene Verletzbarkeit des Bankgeheimnisses. Auf diesem Wege könnten bestochene Mitarbeiter der Sicherheitskräfte und lokaler Verwaltungsapparate mafiosen Gruppierungen Informationen zuspielen, die es diesen ermöglichten, Geschäftsleute noch sachkundiger zu erpressen. Wjatscheslaw Igrunow, Vertreter der „Jabloko“- Fraktion im Parlament, kommentierte: „Der Ukas schützt nicht das Volk vor dem organisierten Verbrechen, sondern die organisierten Verbrecher vor dem Volk.“