: Der kleine Unterschied ...
... zwischen Brasilianern und „Brasilianern der 90er Jahre“: Romario / Rebellionsgeschwächte Russen sind beim 2:0 chancenlos gegen inspirationsgeschwächte Brasilianer ■ Aus San Francisco Matti Lieske
Ach, wie hätte man der brasilianischen Abwehr doch einen Sergej Kirjakow gegönnt, der ihre Reihen wenigstens ein bißchen durcheinanderwuselt, oder einen Igor Schalimow, wenn er nicht gerade so gespielt hätte wie während der Saison bei Inter Mailand, oder einen Kantschelskis oder einen Dobrowolski, wenn sie nicht so gespielt hätten wie bei der Europameisterschaft 1992. Aber weit und breit nichts zu sehen von diesen alerten Herren, den Drahtziehern der Rebellion des Mammons, die auf das verzichteten, was sonst der Traum eines jeden Fußballers ist, die Weltmeisterschaft, weil sie Trainer Pawel Sadyrin nicht mögen und weil die Kasse nicht stimmte.
So mußte sich im Angriff der arme Sergej Yuran von Benfica Lissabon fast allein mühen, notdürftig unterstützt vom spanischen Zweitligisten Dimitri Radschenko, und den gefährlichsten Schuß der Russen gab kein anderer als Sergej Gorlukowitsch ab, der sonst nicht 'mal bei Bayer Uerdingen über die Mittellinie darf. Kein Problem für die brasilianischen Defenseure, die genug Zeit fanden, sich in Gestalt von Leonardo und Jorginho munter am Angreifen zu beteiligen.
Nachdem die „Brasilianer der 90er Jahre“, die Kolumbianer, in ihrem ersten Match gegen Rumänien so böse eins aufs Haupt bekommen haben, drängt sich der Vergleich zu den Brasilianern aller anderen Jahre natürlich auf. Trainer Carlos Alberto Parreira, bei der letzten WM mit den Vereinigten Arabischen Emiraten noch sieglos, hatte erwartungsgemäß das Risiko gescheut, sowohl den 17jährigen Ronaldo (Belo Horizonte) als auch den rasenden Verteidiger Cafú (Sao Paolo) auf die Bank plaziert, und stützte sich dafür auf das europäische Element, das aus den Bausteinen Nüchternheit (Jorginho und Dunga), Eleganz (Raí) und Torgefährlichkeit (Romario und Bebeto) bestand. Heraus kam eine Spielweise, die wesentlich unspektakulärer und fehlerbehafteter war als die der Kolumbianer.
Zahlreiche Bälle wurden planlos weggeschlagen, viele Pässe kamen ungenau und vor allem Brasilo-Schwabe Dunga sorgte mit seinen von Guido Buchwald erlernten Tricks und der von Berthold abgeschauten Überheblichkeit für häufige Verwirrung. Zwischendurch gab es aber auch raffinierte Kombinationen, meist über Raí, dem die Russen viel Spielraum ließen, weil sie wohl den Gerüchten über seine schwache Form Glauben schenkten. Dabei hatte Raís großes Brüderlein Socrates schon zuvor angemerkt, daß dieser wohl so schlecht nicht sein könne, schließlich sei Paris St. Germain mit ihm Meister geworden.
Der Unterschied zwischen kolumbianischer Niederlage und brasilianischem Sieg hieß, neben dem erheblich schwächeren Gegner, Romario. Während Bebeto einen unglücklichen Tag erwischt hatte, ihm die Bälle versprangen und er mehrfach aus guter Position scheiterte, war Romario weder von Ternjawski noch dem später auf ihn angesetzten Chlestow zu halten. Wenn der kleine Mann mit dem Antritt einer ausgehungerten Vogelspinne und der Schußgenauigkeit eines Gerd Müller in Ballnähe kam, herrschte größte Not vor Charins Tor. Schließlich hat Romario im Nationalteam noch einiges aufzuholen. Während er beim PSV Eindhoven 67 Tore in 69 Spielen schoß und beim FC Barcelona 30 in 38 Partien, war seine Quote in der „Seleçao“ mit 26 Treffern in 54 Spielen bislang doch recht miserabel.
Eine leichte Korrektur seines Defizits gelang ihm in der 27. Minute, als er eine Bebeto-Ecke in bewährter Manier ins Netz spitzelte, weitere Tore wurden durch zwei Fouls von Ternjawski verhindert. Das erste ließ Schiedsrichter Lim Kee Chong in der 31. Minute noch durchgehen, beim zweiten gab es Strafstoß, den Raí in der 54. Minute zum 2:0-Endstand verwandelte. Kurz darauf plazierte Romario nach dem schönsten Spielzug der Brasilianer einen Flugkopfball untypischerweise genau in den Armen von Charin. Der Rest war Routine, am Ende stand ein sicherer Sieg gegen ein Team, „das mit zehn Mann verteidigt hat“ (Parreira).
„Ich wußte, daß wir bei diesem Spiel nicht in Bestform sein würden“, sagte der brasilianische Coach, immerhin sei seine Mannschaft aber die bisher einzige bei diesem Turnier gewesen, die ein Spiel über die ganze Zeit hinweg kontrollieren konnte.
Die 81.061 Zuschauer im Stanford Stadium, größtenteils in brasilianisches Grün-Gelb gewandet, waren dennoch hochzufrieden, zumal ihnen sogar noch ein besonderer Leckerbissen geboten wurde: ein Einsatz des bei der WM 1994 erstmals erprobten Elektrowägelchens, das man wohl am besten als „Foulomobil“ bezeichnen kann – jetzt schon ein Publikumsrenner. Immer dann, wenn ein Spieler verletzt liegenbleibt, kommt es gemütlich auf den Platz getuckert, umständlich wird der malade Kicker verladen und ab geht es zum Spielfeldrand, wo er endlich verarztet werden kann, sofern er bis dahin alles überlebt hat. Eigentlich eingeführt, um Zeit zu sparen, drängt sich inzwischen der Eindruck auf, daß einige Spieler besonders hingebungsvoll den Kranken mimen, damit sie auch mal Foulomobil fahren können. Kirjakow wird sich ärgern. Er hat wirklich eine Menge verpaßt.
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