Bienenkönigin im Abendkleid

■ Die Butoh-Tänzerin Anzu Furukawa im Theater am Halleschen Ufer

Honigbienen, so belehrt die Fachunkundigen das Lexikon, sind seit rund 38 Millionen (!) Jahren auf dieser unserer Erde nachweisbar, und sie verfügen über hochentwickeltere Sinnesleistungen als so manches Wirbeltier. Mit „The Insect – In the Kingdom of Silk and Honey“ hat sich die Butoh-Tänzerin Anzu Furukawa der Welt der Bienen und der Seidenraupen zugewandt. Tagelang hat sie unter dem Mikroskop die Bewegungen der Insekten studiert; und nicht umsonst hat sie sich aus der Fülle der Insektenarten genau die zwei herausgesucht, die mit ihrer Produktion von Honig und Seide für menschliche Zwecke instrumentalisiert werden konnten: Nicht die Fremdheit zu diesen Tieren hat ihre akribischen Bewegungsstudien bestimmt, sondern die Nähe zu ihnen – aus insektischer Sicht einen neuen Blick auf die Menschheit zu werfen.

Als Bienenkönigin pulsiert Anzu Furukawas Brustkorb hin und her, schwillt kurz auf und schnellt wieder zurück. So wie man es von Bienen kennt, und faszinierenderweise hält Butoh-Tänzerin Anzu Furukawas Tanz dem Vergleich tatsächlich stand. Doch passiert gleichzeitig etwas anderes: Diese Bienenkönigin trägt ein bunt schillerndes Jackett und darunter ein weißes Abendkleid mit tiefem Dekolleté und entblößten Schultern. Mit jedem Hervorstrecken der Brust rutscht das Jackett zurück, entblößt die Bienentänzerin ihre Nacktheit, präsentiert sich, bietet sich an und bittet um Berührung wieder und wieder, während die kitschige Musikuntermalung von Free-Jazz-Klängen brutal zerfetzt wird. Eine unendliche Wiederholung, in der die Bühne zum geschlossenen Raum und schließlich zum Gefängnis wird, aus dem die Tänzerin mit hysterisch-stummem Lachen ausbricht, um vor der ersten Reihe des anonymen Publikums endlich die Jacke von den Schultern rutschen zu lassen.

Zwei Arbeiterbienen sorgen als komische Nummer für ironische Distanz. Schwerfällig wie Kartoffelkäfer sind sie, könnten am ehesten aus tiefen Erdhöhlen gekrochen kommen und schweben doch vom Schnürboden herab. Sie rollen über den Boden, lassen unaufhörlich die Beine kreisen, wie es richtige Arbeiterbienen eben tun; und ihre Vibrationen in allen möglichen Stellungen, die wohl mit der Honigproduktion zu tun haben, lassen natürlich an ein äußerst skurriles Liebesleben denken.

Im zweiten Teil des Abends, der der Seidenraupe gewidmet ist, tanzt Anzu Furukawa allein. Ein japanisches Märchen, das an die Dramaturgie der Noh-Stücke erinnert, ein dekadentes, opernhaftes Insektensterben zu den Klängen von Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“. Im leuchtend roten, üppigen Seidenkimono kniet eine Frau auf einer Reismatte, und ihr Leben scheint aus nichts anderem als Unterwerfung und Verbeugungen zu bestehen. Als sie alt und gebrechlich wird und ihr Werk vollbracht hat, möchte sie fort von der Matte und in die Welt hinaus. Doch bei dem Versuch, sich auf ihren Händen abzustützen, zeigt sich, daß diese von den vielen Verbeugungen, den Gasshos, morsch geworden sind und das Gewicht der Kimonos nicht mehr tragen können. Bei jedem Versuch knicken sie weg, bis das letzte Gelenk in den Händen gebrochen zu sein scheint und die Frau auf den Ellenbogen gestützt davonkriechen muß.

Mit den Beinen ergeht es ihr ähnlich. Dick in die prächtigen Kimonos eingepuppt, liegt sie schließlich rücklings auf dem Boden und unfähig, sich vorwärts zu bewegen, hat sie den letzten Rest an Würde verloren. Die gebrochenen Hände und Füße lugen aus dem roten Stoff hervor und beginnen ein abgetrenntes, entsetzliches Eigenleben zu führen, spreizen sich in ihrer Zerstörtheit der Welt entgegen, und der Kopf nimmt es mit furchtbaren Grimassen zur Kenntnis. Am Ende wird die Tänzerin Kimono um Kimono von sich streifen und wie eine blutige Spur hinter sich herziehen. Abgerissene Haut, von der sie sich nicht trennen kann, und statt die neue Freiheit zu genießen, versucht sie, ihren Besitz zusammenzuraffen, und kann so nicht als Schmetterling davonfliegen, sondern muß für immer auf der Reismatte herumgeistern. Michaela Schlagenwerth

Noch heute und morgen, 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer