Berichte aus West-Ruanda: „Gegen 10 Uhr begannen die Massaker“

■ In der Region Cyangugu, wo der französische Militäreinsatz beginnt, sollen 80.000 Menschen getötet worden sein

Im Südwesten Ruandas stoßen die Franzosen auf eines der schlimmsten Schlachtfelder der Welt. Hunderttausende von Menschen sind im Dreieck Cyangugu– Butare–Kibuye nach dem Tod des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April ermordet worden. Die RPF ist in dieses Gebiet noch nicht vorgedrungen, und das ganze Ausmaß des Grauens ist noch nicht zu überblicken. Informationen beruhen einzig auf Schilderungen der wenigen, die über die Grenzen ins Ausland entkommen konnten.

Aus der taz vorliegenden Einzelaussagen und gesammelten Augenzeugenberichten geht hervor, daß die Massaker unmittelbar nach dem 6. April begannen und sich gezielt, auf Anweisung der örtlichen Behörden, gegen alle vermuteten Gegner des ermordeten Präsidenten richteten. „Wenn sie kamen, nahmen die Milizen immer zuerst die großen Kaufleute, die Intellektuellen und die wichtigen Leute mit“, berichtet Alfred Muhirwa, dem im Mai die Flucht nach Zaire gelang. „Dies ohne Unterschied zwischen Tutsis oder oppositionellen Hutus. Was haben die Behörden dagegen unternommen? Nichts, aber auch gar nichts. Im Gegenteil – sie verteilten immer wieder Waffen an die (regierungstreuen) Hutus.“

Bereits in der Nacht zum 7. April, als die Nachricht von Habyarimanas Tod in Cyangugu bekannt wurde, schlossen die Militärs die nahe Grenze nach Zaire. Am frühen Morgen des 7. April verbreitete sich in Cyangugu die Nachricht, der Gesundheitsdirektor Dr. Ignace Nagapfizi Ruhinda sowie mehrere Geschäftsleute seien ermordet worden.

Die Bewohner der Gegend begannen, sich in Kirchengebäuden und Kliniken zu sammeln, auf der Flucht vor Soldaten, Gendarmen und den in Milizen organisierten Aktivisten der Habyarimana- treuen Parteien. Sie erhofften sich Schutz durch die Anwesenheit angesehener Kirchenleute oder Entwicklungshelfer. Sicherer wurden sie aber nicht. Oft wurden die Massenmorde gerade dadurch möglich, daß sich die verängstigten Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht hatten.

So waren am Morgen des 11. April im Dorf Muyange zusätzlich zu den Dorfbewohnern 300 Flüchtlinge versammelt, vorwiegend Frauen und Kinder. „Gegen 10 Uhr“, heißt es in einem Bericht, „begannen die Massaker“: Nach Steinwürfen flogen Granaten auf die Menschen in der Kirche sowie im Gesundheitszentrum; Überlebende wurden von Milizionären mit Macheten und Speeren getötet. Gegen Herausgabe von 170.000 Franc (ca. 2.000 Mark) gingen die Milizionäre dann weg, ohne wie angedroht die Flüchtlinge mitzunehmen. Vor dem Gesundheitszentrum lagen nach diesem Angriff grauenvoll zugerichtete Leichen mit vereinzelten Überlebenden. Die Schilderung fährt fort: „Ein lebendes Baby, bedeckt mit Blut, hielt noch die Brust seiner Mutter. Es hatte den ganzen Nachmittag geweint, nackt, in den Gräsern mitten im Leichenhaufen versteckt.“ Am nächsten Tag seien die Mörder zurückgekommen, um – wieder gegen Bezahlung – die Leichen fortzuschaffen.

Die Schilderungen aus allen Dörfern ähneln sich: In Hanika flüchteten sich zweitausend Menschen in eine Kirche; Milizionäre brachen am 11. April dort ein und brachten sie alle um. Die Leichen wurden in „Anti-Erosions-Gräben“ begraben. In Naymasheke versuchte der Bischof von Cyangugu, Mgr. Thadée Nthinyurwa, zu vermitteln; nach seiner Abreise am 15. April schossen Polizisten und Militärs auf die Flüchtlinge, zu deren Schutz sie abgestellt waren. Im Krankenhaus von Rushengi, gelegen im Dorf Gishoka, töteten betrunkene Soldaten alle Patienten.

Im Ort Shangi begannen die Massaker am 8. April mit der Ermordung des Direktors einer Handwerkerschule, Verantwortlicher in der Oppositionspartei MDR; in den nächsten Tagen strömten jedoch bis zu 5.000 Flüchtlinge aus anderen Dörfern in den Ort. Nach dem 13. April begannen die Milizen mit Granatenwürfen und dann mit systematischen Hinrichtungen. Nach drei Tagen waren die Massaker vorbei; die Milizen plünderten alle Gebäude und nahmen sogar Dächer, Türen und Fenster mit.

Die Überlebenden berichten, daß es in der Präfektur Cyangugu schon vor dem 6. April immer wieder Attentate gegen Mitglieder von Oppositionsparteien oder gutausgebildete Tutsis gegeben hatte. Der neuernannte Präfekt Emmanuel Bagambiki habe in den Tagen vor dem 6. April immer wieder nächtliche Treffen mit den von den regierungstreuen Hutu-Parteien MRND und CDR gestellten Bürgermeistern veranstaltet. Nach dem 6. April seien die Behörden dann dazu übergegangen, Waffen an die MRND- und CDR-Parteijugend zu verteilen, die dann als Milizionäre zum Töten zogen. Nachschub sei aus Zaire gekommen. Nur vereinzelt habe es Widerstand gegeben: Im Dorf Busenge hätten zwei Militärs auf mordende Milizionäre das Feuer eröffnet, seien aber danach schnell nach Zaire evakuiert worden.

Da in anderen Landesteilen die RPF auf dem Vormarsch war, flüchteten immer mehr Regierungsanhänger und Milizionäre Richtung Cyangugu, oft mit Zivilisten als Geiseln. Je mehr die Regierungstruppen im Rest Ruandas an Boden verloren, desto mehr wurde Cyangugu diesen Schilderungen zufolge zu einer rettenden Oase für die Milizen, die sich dort noch immer ungestört über die nahe Grenze zu Zaire versorgen können und gleichzeitig ihre verbliebenen Gegner umbringen oder außer Landes treiben. Viele Menschen, die gerettet werden könnten, gibt es sonst aber in und um Cyangugu nicht mehr. Nach unabhängigen Schätzungen wurden in der Präfektur Cyangugu bis Ende April 80.000 Menschen umgebracht. Wer nicht sofort getötet wurde und auch nicht schon fliehen konnte, ist zumeist als Gefangener der Armee im Sportstadion von Cyangugu eingeschlossen, das ab Mitte April zu einem einzigen riesigen Gefangenenlager wurde. In Gruppen holten Soldaten mit vorbereiteten Listen dann morgens Stadioninsassen zur Hinrichtung ab. Noch heute werden in diesem Stadion einige tausend Menschen festgehalten. Ihre Befreiung dürfte ein prioritäres Ziel der Franzosen sein.