Ignorierter Völkermord

Seit fast 20 Jahren leidet Ost-Timor unter der brutalen indonesischen Besatzung und internationaler Indifferenz / Als Touristen getarnt bereisten zwei Journalisten das Land, fanden ein traumatisiertes Volk – aber auch Widerstand  ■ Von Robert McCrum

Ost-Timor ist wieder in den Nachrichten – es wird auch höchste Zeit. Der Völkermord, der auf dieser kleinen, weitab liegenden Halbinsel im östlichsten Zipfel des indonesischen Inselarchipels verübt wurde, ist von Index on Censorship oft dokumentiert, vom Rest der Welt jedoch seit fast einer Generation nahezu ignoriert worden. Seit am 7. Dezember 1975 indonesische Fallschirmjäger aus der Dämmerung niederschwebten, leidet Ost-Timor nicht nur unter einer blutigen Besatzung, sondern auch unter der quälenden internationalen Indifferenz. Ab und an reicht das Schicksal der Inselbewohner für eine Schlagzeile. Danach breitet sich wieder Schweigen aus.

Das scheint sich jetzt zu ändern: In den Printmedien, aber z.B. auch im britischen Fernsehen wird Druck gemacht; die Clinton-Administration hat den Ernst der Lage – immerhin das – zur Kenntnis genommen; die Vereinten Nationen untersuchen Menschenrechtsverletzungen. Das britische Außenministerium ist aufgrund dieser zunehmenden Aufmerksamkeit für Ost-Timor angeblich etwas nervös geworden – völlig zu Recht, denn die britische Regierung ist der Hauptwaffenlieferant Jakartas.

Die Frage ist: wie hat die Bevölkerung Ost-Timors die langen Jahre der Ignoranz und Gleichgültigkeit überlebt? Das Land hat im Laufe der vergangenen 20 Jahre 200.000 Menschen verloren (aus einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 700.000). Tag für Tag lebt man unter ständiger Überwachung, mit Einschüchterung, Haft und Folter. Journalisten dürfen nach Ost-Timor nicht einreisen, also fuhren wir als Touristen – und waren beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der die Ost-Timoresen den indonesischen Invasoren widerstehen.

Vor allem die römisch-katholische Kirche unter der Führung von Bischof Carlos Ximines Belo steht der Bevölkerung zur Seite. Der Bischof muß einen permanenten diplomatischen Drahtseilakt vollbringen – seine Priester halten sich allerdings weniger zurück. Fast ausnahmslos sind sie im Freiheitskampf von Ost-Timor mehr oder weniger aktiv. Unter den vielen römisch-katholischen Missionsstationen, die wir während unseres Aufenthalts im Lande besuchten, war es vor allem eine (deren genaue Lage zu verraten gefährlich wäre), die den Mut der Kirche und die Entschlossenheit ihrer Gemeinde beispielhaft illustrierte.

Diese Mission ist fast eine Tagesreise von der Hauptstadt Dili entfernt und liegt am Rande einer ausgedehnten Waldregion, in der sich Mitglieder einer kleinen, zersplitterten und schlecht ausgerüsteten Widerstandsbewegung stationiert haben. In diesen weitab liegenden Gegenden wird der wahre Kampf um Ost-Timors Unabhängigkeit ausgetragen. Als wir ankamen, mußten wir uns zunächst bei der lokalen Polizeigarnison melden; danach machten wir uns auf den Weg zum Missionsgelände und fragten, wie man uns in der Hauptstadt geraten hatte, nach dem Pfarrer, den ich hier Pater Rodolpho da Costa nennen möchte. Er wollte versuchen, ein Treffen mit einem Guerrillero zu arrangieren. Er sagte gleich, daß das dauern könne, und wir richteten uns aufs Warten ein.

Pater Rodolpho ist ungefähr 40 Jahre alt. Geboren im Norden der Insel, kam er erst vor etwa 7 Jahren hierher. Er strahlt Besonnenheit und Ruhe aus, hat Sinn für Humor und eine Schüchternheit, die jedoch sofort verschwindet, sobald er vor seiner Gemeinde steht. In seinem Pfarrbezirk sind über 90 Prozent der Bevölkerung römisch- katholisch, und Pater Rodolpho ist stolz auf die wachsende Zahl regelmäßiger Kirchgänger.

Mission und Kirche dienen gleichzeitig als Schule und Krankenhaus, Erholungsort, geselliges Zentrum, Fluchtpunkt und Quelle der Inspiration. Das Leben dort ist simpel. Es gibt kein fließendes Wasser, nur sporadisch Elektrizität, und das Essen besteht zumeist aus Reis und gekochtem Lammfleisch. Um sechs Uhr früh beginnt die Schule. Man spricht ganz offen Portugiesisch. Mittags wird es sehr heiß, und ungefähr um vier Uhr nachmittags zelebriert Pater Rodolpho die Messe. Die Kirche ist immer überfüllt, und die Gebete haben nichts von Routine an sich. Ich sah viele Menschen, die weinend beteten.

An diesem ersten Tag erzählte Pater Rodolpho in der Arbeitspause vor dem Mittagessen über sein Leben und seine Arbeit. Dabei kamen wir auch auf Politik zu sprechen, die er auch in seinen Predigten nicht ausläßt. „Daß ich über Korruption und Ungerechtigkeit spreche“, sagte er, „mißfällt dem Militär natürlich.“ Die Situation des Unabhängigkeitskampfes vergleicht er mit Jugoslawien. Präsident Suharto, meinte er, könne man als einen südasiatischen Tito sehen, der eine lose Föderation durch militärische Macht und massive ökonomische Expansion zusammenhält (das Bruttosozialprodukt wuchs in den letzten Jahren um erstaunliche 7 Prozent). Indonesien besteht aus 13.500 Inseln, nicht wenige wollen die Unabhängigkeit. Es besteht kein Zweifel, daß die Gewalt gegenüber Ost-Timor als Abschreckung für andere, für Aceh und Irian Jaya z.B., gedacht ist. Was wird nach Suharto kommen?

Der zweite Tag verging. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Ein Offizier der lokalen indonesischen Garnison fragte nach: „Wer ist hier zu Besuch?“ Obwohl wir uns bei der Polizei angemeldet hatten, war seine Nachfrage ziemlich scharf. „Ich habe zwei Touristen aus London bei mir wohnen“, antwortete Pater Rodolpho. Später erzählte er uns, daß ein neues Bataillon aus Java stationiert worden ist, um den Kampf gegen die Guerilla zu stärken. Die indonesische Propaganda behauptet hingegen, die Zahl der Soldaten würde reduziert. Wir sahen dafür keinerlei Anzeichen.

Nach unserer Siesta am zweiten Tag besuchten Julio und ich einen lokalen Aristokraten, Antonio Anastasio de Costa Soares. Wie der Name schon verrät, reicht der Stammbaum seiner Familie weit in die Tage der portugiesischen Herrschaft zurück. Er hatte die japanische Invasion erlebt, die Rückkehr der Portugiesen gesehen, die kurzlebige Unabhängigkeit Timors 1975 und schließlich die indonesische Invasion. Anders als so viele andere seines Alters hat er die Besatzung unbeschadet überstanden. Auch nach allem, was passiert ist, bekräftigte er, sei sein Land immer noch „dasselbe Timor“.

Am Samstagnachmittag gesellte sich ein Mann zu uns, den wir Jos nennen dürfen. Er ist der Organist und gekommen, um für die Messe am Sonntag zu proben. Aber Jos ist kein gewöhnlicher Organist. Er ist 25 Jahre alt und in ständiger Schutzhaft in den nahen Kasernen. Als der Papst 1989 nach Dili kam, organisierte Jos studentische Proteste und wurde verhaftet. Er ist immer noch in Haft, aber immerhin hat er überlebt. Sein Schicksal ist Bischof Belo und dem Internationalen Roten Kreuz bekannt. Wann man ihn entlassen wird, weiß er nicht. Er bekommt keine Bücher und Zeitungen und darf weder Radio hören noch fernsehen – sein allwöchentlicher Besuch in der Mission ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt.

Nach der Sonntagsmesse fuhren wir mit Pater Rodolpho zu einem weitabliegenden Dorf im Waldgebiet: eine schreckliche Reise, auf der wir überall sichtbare Beweise des versuchten Völkermords an den Ost-Timoresen sahen. In dieser Schlucht wurden 50 Menschen mit Maschinengewehren niedergemacht. Unter jener Palme liegt ein Massengrab, und drüben auf der Anhöhe war ein bekannter Exekutionsplatz. Schließlich kamen wir in dem „neuen Dorf“ an. Heute leben dort etwa 1.100 Menschen. Vor den Massakern der achtziger Jahre und der Wiederansiedlung waren es 4.900. Hier sieht man, wie überall in Ost-Timor, nur Kinder, Teenager und junge Erwachsene – aber keine Dreißig- oder Vierzigjährigen. Sie wurden alle umgebracht. Auch hier gibt es eine Kaserne mit indonesischen Truppen und die üblichen Informanten. Wir trafen auf eine Gruppe junger Leute, die sich einen Boxkampf im Fernsehen ansahen. Ich wollte sie befragen, aber keiner wollte reden. Pater Rodolpho sprach mit dem Führer des Dorfes. Der wurde gereizt und nervös, seine Blicke schossen in alle Richtungen gleichzeitig. Er wußte, daß er beobachtet wurde. Reden wollte auch er nicht.

In diesem Land sind Sprache und Sprechen doppelt terrorisiert. Man schweigt aus Angst vor Folter und Tod. Jeder hat Geschwister, Eltern oder Großeltern verloren, oft unter grausamen Umständen. Diese Menschen befinden sich – wie die Kambodschaner nach den Khmer Rouge – noch immer in einem Schockzustand. Andererseits gibt es einen direkten Terror gegen die Sprache, subtiler, aber ebenso brutal. Die ältere Generation wuchs mit Portugiesisch auf. Nach der Invasion wurde ihre Sprache mit der Widerstandsbewegung assoziiert, sie wird heute deshalb meist nur leise und hinter verschlossenen Türen gesprochen. Die Amtssprache ist bahasa-Indonesisch. Ansonsten wird im Alltag tetum gesprochen, die Sprache der Region.

Am Abend des dritten Tages trafen wir schließlich einen jungen Mann von der Widerstandsbewegung und erfuhren so von der verzweifelten Situation, in der sich die Freiheitskämpfer Ost-Timors derzeit befinden.

Der Mann, mit dem ich sprach, Joaquim Guterres (Name geändert), hatte dem Guerillaführer „Xanana“ Gusmao nahegestanden, der zur Zeit eine zwanzigjährige Haftstrafe absitzt. Seiner Ansicht nach hatte Gusmao sich bewußt fangen lassen, um als politischer Gefangener der Welt das Schicksal der Widerstandsbewegung von Ost-Timor vor Augen zu führen. Gusmao wollte die internationale Presse aufmerksam machen – was ihm auch gelang. Die Ausstrahlung dieses Mannes auf seine Leute ist ungebrochen. „Er ist unser Nelson Mandela“, sagte Joaquim Guterres.

Gusmao wurde vor Ort durch einen jungen Mann namens Konis Santana ersetzt, doch der bewaffnete Kampf steckt in großen Schwierigkeiten. Es mangelt an Waffen, Versorgungsgütern und neuen Rekruten. Etwa eintausend Männer gehören der Untergrundarmee an, doch nur die Hälfte von ihnen hat überhaupt eine Waffe. Ich fragte, wie die Widerstandsbewegung angesichts dieser Probleme überhaupt an Sieg denken könne.

Mein Gesprächspartner hatte keine konkrete Antwort – nur den verzweifelten Glauben an die Sache. „Indonesische Soldaten bringen unsere Leute täglich um, aber ich bin hundert Prozent sicher, daß wir siegen werden. Wir haben die Unterstützung des Volkes und wir lieben unsere Freiheit. Wir werden niemals aufgeben.“

Guterres beschrieb auch die Aktivitäten der anderen Guerilla, ihre Maubere-Codenamen (Lan- Wai, Fuluk, Loro-Talin, Ular Rihyk) und ihren Alltag. Er gab zu, daß die Isolation der ost-timoresischen Bevölkerung frustrierend ist. „Die Welt weigert sich, uns zur Kenntnis zu nehmen, egal welche Opfer wir bringen: Familie, Heimat, Leben ... Man hat uns mit schönen Worten abgespeist, aber wir sterben weiter, jeden Tag.“ Es war nach Mitternacht, als Guterres schließlich zurückmußte und uns noch eine Botschaft für diejenigen Mitarbeiter des Widerstands mitgab, die es irgendwie geschafft hatten, ins Ausland zu fliehen. Dann verschwand er wieder im Wald.

Am nächsten Morgen verließen wir das Missionsgelände Richtung Stadt. Die Glocke rief zur Messe und an uns vorbei strömten die Menschen zur Kirche wie an jedem Tag. Von der anderen Straßenseite aus beobachteten uns die ortsbekannten Informanten von ihren Mopeds aus. Jetzt, da ich die Geschichte im Schutz westlicher Verhältnisse niederschreibe, mache ich mir – wie jeder Journalist es müßte – Sorgen um die Sicherheit derer, die ich beschrieben habe. Darüber hatte ich auch mit Pater Rodolpho gesprochen. Er war ganz ruhig geblieben. „Du bist bei uns willkommen“, sagte er. „Du mußt schreiben über das, was du gesehen hast. Wichtig ist, daß du der Welt von uns erzählst.“

Robert McCrum lebt als freier Schriftsteller und Journalist in London. Er ist Mitglied des Beirats von „Index on Censorship“.