Kulturrevolutionäre Siegesräusche

■ „Rache-Kannibalismus“: Die Hinter- gründe von Wen Yuhongs Erzählung

Die chinesische Regierung bezeichnet es als wüste Feindpropaganda, und viele Anthropologen halten es für einen Mythos, der nie Wirklichkeit war. Wen Yuhongs Geschichte „Die verrückte Stadt“ ist einerseits eine Allegorie auf die unterdrückte Gewalt in einer kranken Gesellschaft – derjenigen Chinas oder, allgemeiner, der modernen Welt. Andererseits gab es tatsächlich Fälle von Kannibalismus in der modernen chinesischen Geschichte, die jene Sozialpathologie belegen, die Wen in ihrer Geschichte thematisiert. Freunde Chinas – und ich zähle mich dazu – haben große Schwierigkeiten, sich mit diesen Vorkommnissen auseinanderzusetzen, aber ich denke, es ist an der Zeit, sie in aller Offenheit zur Kenntnis zu nehmen.

Innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne während der chinesischen Kulturrevolution wurden – unter Bedingungen großer politischer Turbulenz und eines unglaublichen gesellschaftlichen Chaos – in einigen wenigen Bezirken Chinas die Opfer interner Kämpfe nicht nur abgeschlachtet, sondern ihre Körper wurden auch wie Schlachtfleisch zerteilt und danach portioniert – Leber, Herz, Fleisch – zum Verzehr angeboten. Einer der furchtbarsten Ausbrüche dieses „Rache-Kannibalismus“ fand von Mai bis Juli 1968 im Bezirk Wuxuan in der autonomen Region Guangxi statt; etwa 70 Menschen fielen ihm zum Opfer.

Dieses Ereignis wird einerseits durch Interviews bestätigt, die der Dissident und Autor Zheng Yi zwischen 1986 und 1988 führte und die im vorigen Jahr, nachdem er ins Exil ging, im Ausland publiziert wurden, andererseits durch offizielle Berichte der chinesischen Behörden, die Zheng sich beschaffen konnte; sie stammen vom Beginn der achtziger Jahre, als die „Verbrechen“ der Kulturrevolution heimlich untersucht wurden. Ich bin davon überzeugt, daß diese Berichte authentisch sind; ich selbst führte auch Gespräche in diesem Gebiet, die zwar kurz waren, die Daten jedoch bestätigten.

Die chinesische Geschichte weist – obwohl einige sie als literarische Erfindungen bezweifeln – viele Fälle von „Rache-Kannibalismus“ auf, verstreut über einen Zeitraum von 2.000 Jahren. Andere Gesellschaften haben ihre Siegesräusche gegen die Besiegten auf andere Weise zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel durch das „Arrangieren“ der Leichen getöteter Feinde – man erinnere sich an die Fotos von US-Marines im Vietnamkrieg mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Gegner. In China soll das Verzehren von Teilen des Feindeskörpers offenbar die extreme Verachtung ausdrücken, die man dem Gegner gegenüber empfindet. Kannibalismus hatte zudem auch medizinisch-therapeutische Aspekte. Es gab die Tradition, „(eines anderen) Herz zu essen, um das (eigene) Herz zu füttern“, und Brot, das man in das Blut eines exekutierten Verbrechers tauchte, hatte angeblich eine medizinisch vorteilhafte Wirkung – dies ist auch das Thema einer berühmten Geschichte des Schriftstellers Lu Xun aus dem 19. Jahrhundert. Aber warum geschah es während der Kulturrevolution und warum nur in einigen Teilen von Guangxi?

Guangxi war in den sechziger Jahren nach chinesischer Auffassung eine sehr „rückschrittliche“ Region. Besonders die Bevölkerung von Wuxuan, die in einer tiefen Falte des Großen Yao-Berges wohnte, lebte unter allerschwersten Bedingungen. Ihre Gewalttätigkeit war allgemein bekannt: die äußerst blutige Taiping-Revolution aus der Mitte des letzten Jahrhunderts hatte hier ihre Ursprünge. Zwischen 1966 und 1968 wurde die rigide Ordnung der Kommunistischen Partei durch Maos Rote Garden zerstört. Die „Massen“ wurden angewiesen, einen „totalen Krieg“ gegen den „Klassenfeind“ zu führen, und sie ließen sich in den nachfolgenden Fraktionskämpfen leicht manipulieren. Unglaublich arm und politisch völlig unerfahren, verdrehten ihnen Demagogen, Opportunisten und Psychopathen nur allzuleicht die Köpfe. Das Ideal einer neuen Revolution, die eine fehlgesteuerte Gesellschaft wieder auf Kurs bringen sollte, wurde bald wieder aufgegeben.

Nach zwei Jahren verwirrender Kämpfe gab es in Wuxuan Mitte des Jahres 1968 eine plötzliche Eskalation der Gewalt, die zunächst zu Massenmorden und schließlich zu Ausbrüchen von Kannibalismus führte. Zu Anfang aßen nur einige wenige und heimlich das Fleisch von Menschen, das sie oft noch mit Schweinefleisch mischten, wie um den Schock zu dämpfen. Später wurde Menschenfleisch sogar offen bei Trinkgelagen serviert. Die Ereignisse fanden in einer ähnlich surrealen Stimmung statt, wie sie in „Die verrückte Stadt“ beschrieben ist. Schließlich wurden, nachdem ein mutiger Kommunist die Regierung alarmiert hatte, Soldaten von Peking aus nach Wuxuan beordert und machten dem gespenstischen Treiben ein Ende.

Wen Yuhongs Geschichte läßt uns in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken, wie sie sich unter extremen Bedingungen darstellt. Und wer kann sagen, daß Ähnliches auf andere Weise und an anderen Orten nicht wieder geschehen könnte. John Gittings

Der Autor arbeitet als China-Experte in der Redaktion des Londoner „Guardian“