Die verrückte Stadt

Eine Geschichte aus China  ■ Von Wen Yuhong

Ein Hund hing kopfunter im Baum, eine große klaffende Wunde im Bauch. Zwei junge Männer waren gerade dabei, die heißen, schäumenden Eingeweide herauszureißen – einer hielt einen bluttriefenden Dolch, die Hände des anderen waren über und über mit Blut beschmiert. Sie arbeiteten mit äußerster Konzentration. Das Schauspiel, das sie boten, war so furchteinflößend, daß Passanten sich abwandten.

Im Laufe der letzten Jahre müssen sie ungefähr vierhundert Hunde abgeschlachtet haben. Ihre Technik verfeinerte sich dabei immer mehr. Immer wenn sie einen Hund erledigt hatten, beruhigten sie sich gleich und fühlten eine ganz spezielle Freude. Sahen sie einen lebendigen Hund, der einfach nur herumlief oder -sprang, starrten sie ihn an, als wollten sie ihren Augen nicht trauen. Wie konnte ein Hund so sorglos sein, wie es wagen, den Kopf zu schütteln und mit dem Schwanz zu wedeln – direkt unter ihrer Nase. Ihnen begannen die Finger zu jucken, so als sähen sie das Tier bereits ohnmächtig kämpfen, überwältigt und zerteilt, sein frisches Blut herabtropfen. Als hätten sie bereits die dampfenden, zuckenden Organe und Därme vor sich und die vielen Teller voll mit verkochtem Chop-suey aus Hundefleisch.

Sie waren Blutsbrüder, unzertrennlich aneinander gebunden durch eine vollständige gegenseitige Ergebenheit. Ich weiß nicht, wann es begann, aber an irgendeinem Punkt müssen sie mit dieser Hundeschlachterei angefangen haben. Sie jagten durch die Straßen und Gassen der Stadt, und jeder koreanische Nudelimbiß gab ihnen schließlich den Auftrag, ein paar Hunde zu fangen und zu schlachten. Ihre Bezahlung war gering, gerade mal so ein Gericht aus gebratenem Hundefleisch und ein Getränk. Trinken konnten die Brüder gut, sie konsumierten große Massen alkoholischer Getränke. Die Mengen, die sie aßen, waren nicht weiter bemerkenswert, aber ein paar Liter kriegten sie schnell runter. Sie tranken, bis ihre Gesichter rot anliefen, ihre Köpfe anschwollen und der Schweiß ihnen von der Stirn aufs Tischtuch tropfte.

Ihre Lippen waren dunkelviolett, und beide hatten den Mund voll großer, starker, gelbverfärbter Zähne. War der Braten einmal nicht so zart, war das nicht weiter schlimm; ihre Zähne gruben sich hinein, zerrten und mahlten an dem Stück, kauten nach hinten und wieder nach vorn, und eh man sich's versah, hatten sie es geschluckt. Wenn sie tranken, konnte das die halbe Nacht dauern, und es gab nicht einen einzigen koreanischen Imbiß, in dem man wagte, sie rauszuwerfen. Keiner hatte sie je völlig betrunken gesehen. Sie sprachen mit niemandem, nur manchmal riefen sie dem Wirt zu, er solle ihnen mehr zu essen bringen – „He, Wirt, mehr Essen!“ –, sie riefen das mit ihren rauhen Stimmen und schnippten dabei mit dicken, gelben Fingern. Dann redeten sie weiter und sprachen über Dinge, die keiner verstand, und lachten auf ihre gemeine Art laut brüllend los.

Wenn Hunde die Brüder kommen sahen, war es, als ob sie den Blutgeruch des Metzgers an ihnen riechen könnten, und sie rannten so schnell und so weit sie nur konnten, verschwanden auf Nimmerwiedersehen in der Ferne. Abends, wenn die Brüder an den Häusern vorbeigingen, in denen Hunde waren, heulten die Hunde im Innern der Häuser ganz fürchterlich, als ob ihr letztes Stündchen schon geschlagen hätte.

Dann guckten die Brüder sich an und prusteten los und waren mächtig stolz auf ihren Ruf. Sie hatten immer glänzende Dolche in ihren Gürteln stecken, so daß selbst die Polizei sich nicht traute, sie anzufassen. Beide Brüder hatten eine offizielle Lizenz als Spezialisten für Hundeschlachten. Sie fuhren auf großen Motorrädern, trugen Helme und waren von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Sie rasten an einem vorbei und lachten.

Sobald Händler die Brüder auf den Markt kommen sahen, wurden sie ganz aufgeregt. Sie liefen auf sie zu und begrüßten sie, wechselten ein paar Worte und drückten ihnen Waren in die Hände, in der Hoffnung, sie würden etwas kaufen. Wenn die Brüder Blut sehen wollten, konnten sie kaum noch schlafen. Ihre Gedanken kreisten nur noch um ein einziges Thema – schlachten und noch mehr schlachten. Wenn es gerade keine Hunde gab, nahmen sie Katzen oder jagten sogar Ratten. Sie nagelten die armen Kreaturen auf Holzbretter, rissen ihnen die Bäuche auf und griffen mit bloßen Händen in die feuchten, schleimigen, klebrigen und noch pochenden Eingeweide. In solchen Momenten fühlten sie sich vollkommen befriedigt und vergaßen die Welt um sich her. Sie hielten die Innereien lange in den Händen, drückten sie sanft und genossen das Berühren der schlüpfrigen Organe, und erst wenn sie ganz erkaltet waren, jedes Zeichen von Leben erloschen war, warfen sie sie zu Boden und griffen nach mehr. Ihre gierigen Münder öffneten sich weit, und ein tief aus dem Bauch hervorkollerndes Lachen platzte aus ihnen heraus. So waren sie; zwei Hände, von denen Blut zu Boden tropfte, umgeben von kleinen Leichen mit leeren Bäuchen, ausgestreckt auf Brettern – Herzen, Leber, Eingeweide überall verstreut, bis an die Wände und Decken gespritzt – hier ein langes Stück Darm, da eine Lache gelber Galle und dazu ein fauliger Gestank, der den ganzen Raum erfüllte.

Nach getaner Arbeit setzten sie sich an den Tisch und starrten auf ihre Hände, an denen langsam das Blut trocknete und sich schwärzte, während die kleinen Körper auf den Brettern steif wurden.

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Schließlich waren sie total erschöpft, ihre Kraft verausgabt, als hätten sie einen heroischen Kampf ausgefochten oder eine Bande plündernder Eindringlinge abgewehrt. Nach einiger Zeit, wenn die Müdigkeit etwas nachließ und sie sich an ihrer Beute satt gesehen hatten, packten sie alle Körper und Eingeweide zusammen, kratzten Blut und Galle von den Wänden, schmissen alles in einen großen Kessel mit kochendem Wasser, das sie salzten und mit Sojasauce mischten.

Dies war die merkwürdigste Stadt, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich bin an allerlei Orten gewesen und habe schon ganze Tage mit merkwürdigen Gestalten verbracht; ich war ehrlich erschrocken, verängstigt und angeekelt von all den anormalen Verhaltensweisen, den Manien und dem barbarischen Kannibalismus. Aber nie zuvor sah ich einen Ort wie diesen, mit einer so zahlreichen Bevölkerung und so vollkommen umschlossen von einer alles erstickenden Dunstglocke des Bösen. Außen wand sich ein Fluß um die Stadt und bedrohte sie permanent mit Überflutung. Im Inneren gab es nur einen flachen, fast ausgetrockneten Strom. Ich ging einmal hin, um ihn mir anzusehen, aber selbst nach den sommerlichen Wolkenbrüchen reichte einem das Wasser kaum bis zur Taille und war höchstens mal einen Meter hoch. Das brackige Wasser schimmerte in der Sonne. Breite Ufer aus blaßgelbem Sand säumten ihn auf beiden Seiten, eine stahlverstärkte Brücke erhob sich aus diesem Sand und spannte sich hoch über dem Wasser wohl tausend Meter bis zum anderen Ende. Im Sommer spielten die Kinder der Stadt nackt im Wasser. Auf beiden Seiten waren die steilen Uferkanten mit hohem Kraut bewachsen. In anderen Teilen der Stadt gab es gar keine Gewässer. Natürlich besaß der öffentliche Park einen kleinen See – aber auf dem schwamm immer Unrat: Brotkrusten, Einwickelpapier von Eis am Stiel, Grasbüschel und anderes Weggeworfene. Der See war eigentlich nur ein Teich. Dennoch tummelten sich in ihm massenhaft Ruderboote, die alle ständig ineinanderfuhren und zusammenkrachten, so daß der See manchmal völlig überwölbt war von einem seltsam knirschend-schrillen Getöse. Eine Art Burggraben wurde damals gerade um die Stadt gezogen, und ich fragte mich, ob sein Schicksal dem des Teiches ähneln würde – schmutziges, stinkendes Wasser, auf dem Papierabfall schwamm.

Man kann sich vorstellen, wie trocken es in der Stadt war, und verrückte Winde, die viel Staub mit sich führten, machten zusätzlich jeden nervös. Hinzu kam der Rauch, der in dicken Wolken aus den vielen Schornsteinen der Stadt quoll, und der Schwefelgestank, den die chemischen Fabriken permanent verbreiteten. Die Stadt war sehr groß, mit vielen Menschen; viele Varianten geistiger Störungen schienen in ihr zu Hause zu sein. Ich hatte soetwas wirklich noch nie gesehen.

Dann kam der Tag, an der das Verhalten der Brüder in der ganzen Stadt plötzlich zur Norm wurde. Die jungen Leute sahen sie sich sehr genau an und kopierten ihr Verhalten bis ins Detail. Das Schlachten von Hunden hatte bis dahin noch nicht zum Repertoire ihrer Manien gehört, aber innerhalb allerkürzester Zeit durchdrang es jeden Winkel der Stadt. Die Büros der Industrie- und Handelskammer waren täglich brechend voll mit Menschen, die Lizenzen haben und sich als Hundeschlächter niederlassen wollten. Sie standen in langen Schlangen dicht beieinander. Und massenhaft verließen junge Leute Fabriken und Schulen, kehrten ihrer früheren Arbeit oder Ausbildung den Rücken und schlossen sich mit breitbeinig-machohaftem Gebaren den Massen der verrückten Hundeschlächter an. Jeder fuhr ein schweres Motorrad und raste an einem vorbei. In ihren Gürteln hatten sie kurze Dolche stecken und drängten in die Kneipen, um sich dort bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken. Sie brabbelten unverständliches Zeug vor sich hin und lachten gemein. Und sie fingen an, Ratten und Katzen zu jagen, warfen überall mit Eingeweide und Organen um sich, schmissen sie schließlich in große Kessel voll kochendem Wasser, kochten sie, bis sie ausgelaugt waren und stürzten die Brühe schließlich in großen Schlucken herunter. Was die Brüder heute taten, war morgen schon in der ganzen Stadt Mode.

Eines Tages kam ein junger Mann auf den Markt im Westen der Stadt, der sich hier nicht auskannte. Er war Viehhändler, groß und kräftig, nicht auf den Kopf gefallen und ein tüchtiger Mann. Als die beiden Brüder gegen Mittag auf den Markt kamen, ließen die Händler alles stehen und liegen und liefen auf sie zu, um sie zu begrüßen. Einer nach dem anderen ließ die Brüder sich aus seinen Waren das Beste heraussuchen. Nur der junge Viehhändler stand vor seinem Haublock und wunderte sich. Warum, um alles in der Welt, drängelte man sich hier darum, irgendwelchen Ratten- und Katzenjägern die Füße zu küssen? Er und die zwei Brüder starrten sich an, und dem jungen Mann schauderte es beim Anblick ihrer großen Spielermünder und flachen Metzgerwangen. Nachmittags fing wieder ein verrückter Wind zu wehen an, der wirbelte Sand auf und hob sogar Steine hoch. Kohlstrünke, Papierschnipsel, faulende Gemüsereste – alles wurde plötzlich und heftig himmelhoch geschleudert. Vor einer gaffenden Menge banden die beiden Brüder den jungen Händler, stopften ihm Schweineinnereien in den Mund und hängten ihn, wie sie es mit den Hunden machten, kopfunter in einen Baum auf dem Markt.

Um diese Jahreszeit war der Baum fast kahl. Am Fuß des Baumes befand sich ein großes, schwarzes Loch voller Kriech- und Krabbeltiere. Die Brüder zogen dem jungen Mann die Kleidung vom Leib, schmissen sie in dieses Loch und schlitzten ihn dann mit einem einzigen Schnitt in ganzer Länge auf. Seine blaßgrünen Därme fielen schleimig und platzend aus ihm heraus. Die versammelte Menschenmenge drängte sich näher und sah mit größtem Genuß zu. Eine Horde junger Männer, besonders glühende Fans der beiden, paßten auf, daß ihnen nicht die kleinste Kleinigkeit, kein Gesichtsausdruck, keine Handbewegung entging. Manche machten jeden Handgriff auf der Stelle pantomimisch nach.

An diesem Abend verbreitete sich die Nachricht von der Tat der Brüder wie ein Lauffeuer durch die Stadt. In jedem Haus wurde die Geschichte mit glühender Schadenfreude erzählt. Wie die Augen wilder Tiere im Dschungel funkeln, so blinkte aus jedem Gebäude, jedem Haus ein Licht und durchdrang die schmutzige Dunkelheit der schlechtbeleuchteten Straßen. Aus jedem Fenster ergossen sich Lachsalven und Flüche, bis weit nach Mitternacht dauerte es, bis endlich die Lichter gelöscht wurden. Auf den Straßen war es pechschwarz, und ein kalter Wind blies. Von den Lippen der Schläfer kam immer noch dieses Lachen, das dem der Brüder ähnelte, platzte durch die Fenster nach draußen, lief in den Straßen auf und ab und prallte mit seinem eigenen Echo zusammen. Schlafwandler standen auf und ergriffen ihre Fleischmesser, schärften sie an den Seiten der großen Sauerkohlfässer.

Die ganze Nacht über erhob sich die Raserei der Schläfer in den dunklen Himmel über der Stadt. Unaussprechliche Schrecken formten sich auf ihren Lippen, wurden gemurmelt, und ohne Unterbrechung hörte man den rhythmisch rauhen Ton des Messerwetzens. Über allem aber lag ein beständiges Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Am drauffolgenden Tag ereigneten sich auf den verschiedenen Märkten der Stadt 16 solcher Taten gegen Kunden, eine nach der anderen, und jede verlief haargenau so, wie es die Brüder vorgemacht hatten. Man griff sich die Opfer, hängte sie kopfunter in einen Baum – und schlachtete sie.

Im Lauf der nächsten Wochen wurde die ganze Stadt von einem wahnsinnigen Rausch erfaßt. Nicht nur junge Leute, sondern auch ältere schlachteten, was ihnen vor die Hände kam. Nächtelang erhob sich ein furchtbares Geschrei in den Gassen. Was die Menschen im Schlaf redeten, wurde allnächtlich schrecklicher und produzierte ein nicht endendes Grausen. Die Nächte, in denen das Geräusch des Wetzens von Messern vorherrschte, wurden immer niederdrückender und nervtötender. Es war, als ob die ganze Stadt von einem wahnsinnigen Singen und Tanzen erfüllt wäre, mit Hunderten schlitzender, eiskalter, glitzernder Messer.

Die Stadtregierung beauftragte die Polizei, die Brüder zu fangen. Aber manch einer hatte bemerkt, daß sich auch in den Reihen der Polizei Leute aufhielten, die für das Niedermetzeln verantwortlich waren. Am Ende stürmte eine Polizeieinheit doch das Haus der Brüder, sie traten die Eingangstür ein, mit Pistolen im Anschlag. Aber das Haus war leer – bis auf einen Kessel voller Rattenfleisch und -eingeweide, die fast zu Matsch zerkocht waren. Die Polizisten legten ihre Waffen ab und riefen dem nächsten Wirt zu, er solle ihnen etwas Alkoholisches bringen; dann setzten sie sich und zerrten an den Rattenbeinen und schaufelten sich die Eingeweide in den Mund, schlugen sich in einem riesigen Gelage mit dem Zeug die Bäuche voll.

Nach wenigen Tagen waren die Brüder wieder da. Dolche im Gürtel und Mordlust im Blick, rasten sie auf schweren Maschinen durch die Gegend. Die Stadt war permanent eingehüllt in dichten, gelben Smog. In den Eingängen der Geschäfte standen Wahrsager und Handleser, junge und alte, Männer und Frauen. Jeder hatte einen Packen knallig bunter Karten in der Hand und war angetan mit einem schwarzen, wattierten Mantel, der vor Fett, Flecken und Dreck starrte.

Sie schrien laut, gingen hin und her durch die Menge. Regen fiel langsam vom grauen Himmel, gelbe Blätter deckten die Stadt ein, flogen herum oder klebten durchweicht auf dem schwarzen Teer der Stadt. Die Straßen selbst waren voller Schlaglöcher, und lose Steine bewegten sich mit dem Verkehr hin und her. Jeden Tag floß die große Menge der Menschen zur Arbeit und wieder zurück wie eine schlängelnde Schlange, sammelte sich und verschwand wieder in gestaltlosen Löchern und Ritzen.

Abends stand man vorm Kino und Theater und langweilte sich zu Tode, unter anderem weil die Türen des Theaters seit Jahren fest verschlossen blieben. Im Kino zeigte man seit Jahr und Tag denselben Film, Tag für Tag, 365 Tage im Jahr. Der Ton quälte sich keuchend und spuckend aus dem alten Projektor, an dessen Zahnrädern ein paar Zähne fehlten. Die Platzanweiser, junge wie alte, die aufpassen sollten, stolperten erst in der Dunkelheit herum und spielten danach Poker. Zweimal im Jahr gab es im Fußballstadion große Aufregung, wenn nämlich ein nationales oder internationales Match stattfand. Mehrere hundert Zuschauer wurden gewöhnlich bei dem Versuch, einen Blick auf die Vorgänge auf dem Spielfeld zu werfen, zu Tode gedrückt oder platt gewalzt. Die jungen Männer, die Monat für Monat aufs Feld gelassen wurden, waren wie wilde, uneingerittene Pferde. Sie rasten hin und her, stießen und stolperten, zerrten und zuckten, hatten bald Schaum vor dem Mund, und ihr Haar war wild durcheinandergeraten.

Als ich das erste Mal in diese Stadt kam, war gerade die Zeit der verrückten Stürme; das ist die Jahreszeit, die „einen einfach umbringt“. Ein starker Sturm hatte alle Häuser der Stadt demoliert. Selbst Hotels und größere Gebäude, die angeblich erdbebensicher waren, waren eingestürzt. Staubspiralen wirbelten durch die Straßen, saugten Papier, Holz und Dachpfannen hoch in die Luft. Der Sturm hatte große Bäume gefällt, die jetzt still in allen Straßen lagen. Zarte Weidenzweiglein wurden von wütenden Böen erfaßt und tanzten stolz über Dächer. Über allem lang schwarzer Trümmerstaub, den ein wahnsinniger Wind überall hinfächelte.

Ich sah Menschenmengen, eine zusammengedrängte Gruppe nach der anderen, die in den zerbrochenen Hüllen ihrer Häuser saßen. Mit übertriebener Energie knallten sie die Pokerkarten auf den Tisch. Am Tischrand lag oft schon dunkel ein unordentlicher Haufen Geldscheine. Die Menschen hatten lange Wollmäntel an und saugten mit Inbrunst an ihren Zigaretten. Die Augenbrauen stießen aneinander, und die Stirn war in Falten gelegt, während sie die Karten wie im Todeskrampf umklammert hielten. Dunkler Rauch färbte ihre Gesichter schwarz und gelb. Ein Wind aus Nordost heulte und pfiff durch die Dachsparren in Wellen und Böen. Ich sah kleine Kinder, die sich wie zufällig bei diesen Gruppen eingefunden hatten und sich bei den Erwachsenen anlehnten. Auch sie jedoch rauchten wie die Landser, und ihre durchdringend-schrillen Kinderschreie schmerzten in den Ohren. Überall lagen trockene Holzstücke und bröckelnde Ziegelsteine – und Schaben und andere Insekten krochen in endlosen Zügen hin und her. Auf einer freien Stelle des großen Platzes hatten die Brüder einen Boxring aufgebaut. Wer sich den Kampf ansehen wollte, mußte zehn Dollar zahlen. Ein riesiger Hund wurde in den Ring geführt, und die zwei, die außer knappen Shorts nur ihre Dolche trugen, kämpften mit dem Hund. Die Brüder trainierten diese Hunde speziell dafür und fütterten sie täglich mit lebenden Katzen, Hasen oder Ratten. Dadurch wurden die Hunde zu wilden Bestien. Wenn sie Hunger hatten, glitzerten ihre Augen, sie fletschten die Zähne, und ihre Ohren stellten sich auf.

Ihre roten Fleischfressermäuler standen weit offen, die Zunge hing ihnen heraus, und sie jaulten, daß einem das Blut stockte. Sobald die Gegner im Ring aufeinandertrafen, warf sich der Hund auf die Menschen, seine scharfen Krallen zeichneten blutige Striemen ins Fleisch, und von den Shorts waren sofort nur noch Fetzen übrig. Dann wurden auch die Männer zu wilden Bestien, ihre Münder hingen weit offen, und man sah ihre kräftigen, gelben Zähne. Sie duckten sich hier, wichen dort aus und warteten auf den Moment, in dem sie dem Hund ihren Dolch tief in die Kehle stoßen konnten. Der Hund hatte seine Krallen meist noch tief in ihrem Fleisch, man hörte einen kleinen, glucksenden Laut, und langsam lockerten und lösten sich die Pfoten, der Hund fiel, streckte sich lang hin und wurde steif.

Das Publikum sah mit überquellenden Augen zu. Wenn die Hunde die Brüder ansprangen, standen die Zuschauer atem- und bewegungslos da und wandten keine Sekunde den Blick.

Egal welches Wetter herrschte, ob wilde Stürme tobten oder ob es zum Gotterbarmen regnete – jeden Tag um die Mittagszeit schickten die Brüder einen Hund in den Ring. Um das tolle Spektakel dieses wüsten Kampfes zu sehen, kamen die Menschen von überall her, manche fuhren Hunderte von Kilometern mit dem Zug. Daß die schweren Stürme ihre Häuser zerstört hatten, daß sie dabei bis auf die Haut naß wurden – nichts konnte sie stören. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Moment, an dem der dumpf grollende Hund abgestochen wurde.

Immer waren die Brüder umgeben von einem Schwarm junger Frauen. Die färbten ihre Lippen rot, puderten sich die Gesichter schneeweiß und kleideten sich nach der allerneusten Mode. Sie und die Brüder feuerten sich vor der Menge mit den vulgärsten Obszönitäten gegenseitig an, was das Publikum mit brüllendem Gelächter quittierte.

Es gab eine Frau, die schon sehr lange mit den Brüdern umherzog. Zu jeder Jahreszeit trug sie dasselbe schwarze Kleid. Sie war eines der gebildetsten Mädchen der Stadt. Man sagte, daß ihre Eltern der Heirat mit einem Mann zugestimmt hatten, der seinerseits nicht nur gebildet war, sondern auch reich. Die Leute waren gelb vor Neid.

Aber in dieser Stadt mußte alles eine unerwartete Wendung nehmen. Der junge Mann hatte vor nicht allzu langer Zeit die Universität abgeschlossen, und alle meinten, daß er es gewiß noch weit bringen werde. Er aber fing an, sich in Bars und Tanzsälen herumzutreiben. Die Leute sagten zwar noch immer, daß er intelligent sei und früher oder später mal ein hoher Beamter würde. Aber eines Morgens fand man ihn auf seinem Bett – er hatte Selbstmord begangen.

Am Abend ihrer Hochzeit kam das Mädchen herausgerannt. Am nächsten Tag erschien sie ganz in Schwarz mit den Brüdern auf dem großen Platz. Sie rauchte Kette, wie die Brüder, und ihre Nägel wurden gelb davon und ihre Augen schimmerten grün. Sie trank ein Glas nach dem anderen. Sie trank, bis ihr der Mund dampfte und sie nichts mehr sagen konnte. Aber sie blieb schön dabei und außerordentlich elegant. Ihre Augen wurden dunkler und kälter, wie das Licht des Winterhimmels. Die Leute redeten oft über sie und meinten, ihre Augen seien merkwürdig. Ihr Blick sah nichts direkt an, so, als sähe sie gar nichts, und gleichzeitig war es doch, als sähe sie alle gleichzeitig an. Sogar wenn sie die Brüder ansah, wirkte sie verloren, als schaute sie, ohne zu sehen. Sie lachte und sie weinte nicht und sie wurde nie wütend; weder ihre Stimme noch ihr Gesichtsausdruck gaben etwas preis, aber es war so, als ob sie ohne Unterlaß den Boden eines großen Meeres nach einer verlorenen Nadel absuchte.

Sie verstand sich sehr gut mit den Brüdern, dachte sich Aktionen für sie aus und überließ ihnen ihren Körper. Zu Silvester brachte sie die beiden dazu, für 500 Dollar Feuerwerkskörper zu kaufen und sie in der einen Nacht alle auf einmal abzubrennen. Drei Stunden lang war der Himmel erleuchtet. Sie stiftete die Brüder an, das Herz eines Hundes – blutig, tropfend und noch warm von einem Rest Leben – einzupacken und es einem ihrer ehemaligen Geliebten zu schicken. Als der junge Mann es auspackte, starb er fast vor Schreck, schrie nach einer Ambulanz und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Und sie setzte durch, daß die Brüder sich Masken vors Gesicht banden und eine Bank ausraubten. Dann packte sie die Geldbündel, die sie erbeutet hatten, und warf sie auf dem großen Platz hoch in die Luft, wobei sie mit höchster Befriedigung den Leuten zusah, die bis zu zwei Stockwerke hochsprangen, um sich – ein Wald von Armen! – die schönen Geldscheine aus der Luft zu schnappen. Sie und die Brüder trugen immer Dolche, und wenn sie an geparkten Autos vorbeikamen, schlitzten sie nicht selten die Reifen auf, bevor sie in der Schwärze der Nacht untertauchten.

Sie verstand sich auch sehr gut mit den Frauen, die die Brüder ständig umschwärmten. Sie mischte sich überhaupt nicht ein und stand oft still am Rand, sah zu, wie die jungen Frauen sich mit den Brüdern neckten und mit ihnen flirteten. Sie selbst schminkte sich nie und kleidete sich auch nie besonders schick – und dennoch sah sie wunderschön aus mit ihrem glänzenden schwarzen Haar, das ihr Gesicht so schön und natürlich frei ließ.

Sie trank gerne, bis sie beschwipst war; dann rannte sie oft völlig nackt nach draußen und wälzte sich im Schnee. Im Sommer ging sie gerne ohne jeden Schutz vor wüsten Stürmen nach draußen, wenn Regenschwaden böig durch die Stadt gepeitscht wurden; dann lief sie hinaus und ließ sich vollständig durchnässen.

Die anderen Frauen der Gang reagierten eifersüchtig auf den Status, den sie bei den Brüdern hatte, und die gesamte Stadt verachtete sie mit Inbrunst. Wenn jedoch wieder einmal ein Komplott geschmiedet wurde, sie umzubringen, entdeckten die Brüder die Verschwörung jedesmal in letzter Sekunde und verhinderten den Mord.

Die Polizei ging gegen die Brüder und sie vor. Sie beendete als erstes die öffentlichen Kämpfe auf dem großen Platz – was übrigens nur zu Beschwerden führte. Dann entzog sie den Brüdern die Lizenz zum Hundeschlachten, und an jedem koreanischen Imbiß wurde eine Polizeieinheit stationiert, die auf den Wirt aufpassen mußte, damit er nicht heimlich doch die Brüder beauftragte, Hunde schlachten zu gehen.

Mir schien, daß dies der friedlichste Tag meines Aufenthaltes in der Stadt war. Jede Straße, groß oder klein, quoll geradezu über mit gelbuniformierten Polizisten. Sie hatten elektrische Schlagstöcke in den Händen, Schußwaffen steckten in ihren Gürteln, und ihre Rufe gellten durch die ganze Stadt. Wirte drückten ihnen am laufenden Meter Biergläser in die Hände. „Mein lieber Freund, das ist für Sie. Ich gebe einen aus.“

Die jungen Leute mit Dolchen im Gürtel waren nirgends mehr zu sehen. Und man hörte nichts anderes als das Hupen der Polizeimotorräder. Am Kinoeingang standen immer noch Leute, die sich zu Tode langweilten. Die Türen des Theaters blieben fest verschlossen.

Inzwischen ist Winter, und die modrig-gelben Abgase senken sich wieder auf die Stadt. Der erstickende Geruch von Schwefel, Staub und Kohle ist intensiver als je zuvor und sickert in jede Pore. Die Bäume auf beiden Seiten der Straßen sind schwarz geworden, und selbst der aufgeschaufelte Schnee an den Straßenrändern ist pechschwarz und voll schwärender Löcher. Beißender Nordwind geht den Leuten durch Mark und Bein, und nachts füllt sich die Stadt immer noch mit schrecklichen Geschichten – mit Erinnerungen an die Schlächter und den Klang des Messerwetzens.

Ich glaubte schon, daß die Stadt sich ganz und gar beruhigt hatte. Am Tag meiner Abreise fragte ich einen Polizisten, der neben mir stand – ein junger Mann wie die beiden Brüder: „Habt ihr sie wirklich getötet, wie die Leute sagen?“ Er sah mich komisch an und raunte mir mit gedämpfter Stimme zu, daß die Brüder schon vor langer Zeit in die Polizei eingetreten seien. Als er mein Erstaunen sah, fuhr er mit schwellender Brust fort: „Die Brüder werden im Frühjahr wiederkommen, das ist jetzt nur eine Übergangszeit der Ruhe und Konsolidierung. Die Katze hält Winterschlaf. So ist das jedes Jahr.“ Er sprach jetzt ohne Vorsicht. „Und die Frau?“ fragte ich. „Was ist mir ihr?“ „Welche Frau?“ Er runzelte widerwillig die Stirn. „Die haben sie schon längst umgebracht.“ „Umgebracht? Die Brüder?“ „Nein, nein, die Gang war es. Als die Brüder einmal nicht aufgepaßt haben, sahen sie ihre Chance und schlugen zu.“ Er legte sich selbst die Hand um den Hals, um mir zu zeigen, was passiert war. Dann fügte er hinzu: „Sie war ja nun wirklich das Letzte.“

Ins Englische übersetzt von

Sally Vernon

Die Geschichte der chinesischen Autorin Wen Yuhong erschien das erste Mal in der Sammlung „The Lost Boat: Avant-Garde Fiction from China, selected and edited with an introduction by Henry Y. H. Zhao“ (London 1993; Wellsleep Press). Sie erscheint hier aus dem Englischen übersetzt mit freundlicher Erlaubnis des Verlages.

Ein weiterer Band mit moderner chinesischer Literatur ist im selben Verlag soeben erschienen. „The Sky Under Ground“ versammelt Beiträge der 1990 nach zehn Jahren wiedererscheinenden Zeitung „Today“. Weitere Angaben zur Geschichte in John Gittings Artikel auf diesen Seiten.