„Europa hat Bosnien abgehakt“

■ Sarajevo, was war da noch... / Marieluise Beck berichtet aus dem neuen Berlin, wo der Terror noch lange nicht aufgehört hat – nur die Welt schaut nicht mehr hin

„Es ist so deprimierend – und so aussichtslos...“ Marieluise Beck, am Freitag von einer einwöchigen Reise aus Sarajevo zurückgekehrt, stehen die Eindrücke ihrer Reise ins Gesicht geschrieben. Sarajevo? Da hat man lange nichts mehr gehört... Ein bitteres Lachen: „Kein Wunder, denn alle JournalistInnen sind abgezogen. Wo sich im Holiday Inn die Presse traubenweise scharte, gibt es nicht mal mehr eine Pressestelle – aber in Sarajevo ist keine Ruhe. Noch immer werden dort täglich Menschen erschossen. Doch Europa hat Bosnien abgehakt.“

Faktisch ist Sarajevo eine geteilte Stadt: „Das neue Berlin“, wie Marieluise Beck sagt. Heckenschützen schießen aus den serbisch besetzten Stadtteilen noch immer auf PassantInnen. Das Leben findet wieder auf den Straßen statt – auch der Marktplatz, auf dem eine serbische Granate vor wenigen Monaten ein grauenhaftes Massaker anrichtete, ist wieder belebt. Durch einige wenige selbstorganisierte bosnische Transporte, die über eine lebensgefährliche Route und den einzigen Zugang zur eingekesselten Stadt, die Rollbahn des UN-Flughafens, nach Sarajevo geschleust werden, gibt es Tomaten und Brot zu kaufen, ab und zu Shampoo oder auch mal ein Fläschchen Nagellack. Das alles aber nur gegen D-Mark, bosnische Währung zähltnicht. Und wer keine Verwandten und Bekannten im Ausland hat, lebt weiterhin von Mehl, Bohnen und Öl – morgens, mittags, abends. „Und mein Hauswirt berichtete mir, daß der systematische Terror gegen die wenigen, noch in den serbisch besetzten Stadtteilen lebenden Muslime, unverändert weitergeht.“ Nachts dürften die Muslime ihre Haustüren nicht abschließen, so daß jederzeit Tschetniks ins Haus eindringen könnten. Und alle seien zur Zwangsarbeit verpflichtet. Und es sei „unvorstellbar“, welche psychischen Zerstörungen den Menschen angetan worden seien – konfrontiert wurde zum Beispiel einmal damit, als sie ein völlig verwirrter mann auf der Straße ansprach – es stellte sich heraus, daß er in einem der serbischen Konzentrationslager gewesen war.

Im nichtbesetzten Teil der Stadt „genießen die Menschen erstmal die jetztige Situation – aber niemand rechnet damit, daß sie stabil bleibt.“ Stattdessen habe jeder eine Riesenangst davor, daß es „jederzeit wieder losgehen“ könne – mit der Folge, daß sich die Stadt von dieser Depression nie wieder erholen werde. „Die Beraterin des alten und neuen bosnischen Premierministers Silajdzic sagte zu mir: ,Damals habe ich erlebt, wie die Juden verschwanden – jetzt sind wir dran'“, so Marieluise Beck. Hoffnungen auf die UNO habe niemand mehr. Im Gespräch mit Premier Silajdzic, „der unglaublich müde und erschöpft war“, äußerte der seine Einschätzung über die neusten, in Washington ausgehandelten Teilungspläne für Bosnien: Sollte die derzeit favorisierte 51-Prozent-Lösung für Bosnien und Kroatien durchkommen und damit das serbisch-besetzte Bosnien an Zentralserbien angeschlossen, sei faktisch Groß-Bosnien geschaffen – „und Bosnien bleibt umzingelt, kann keine eigenen Güter produzieren und bleibt abhängig, während gleichzeitig die Hilfsbereitschaft des Auslands nachläßt. Damit wäre die Strategie Serbiens aufgegangen.“ Für Marieluise Beck ist es „unvorstellbar, welche Verbrechen mit dem glatten Gesicht der Diplomatie gegen Bosnien organisiert worden sind.“

„Es geht jetzt vor allem darum, gegen die ,Entsorgung' Bosniens anzugehen“, so Marieluise Beck. Denn niemand könne glauben, daß diese Spirale – militärische Gewalt, Konzentrationslager, Verschiebungen von Grenzen, ethnische Säuberungen – so einfach mit dem Beerdigen des Problems Bosnien Halt mache vor dem Rest Europas. „Wir sollten uns nicht so sicher sein, daß wir nicht eines Tages dafür bezahlen müssen, das sagte mir der religiöse Führer der bosnischen Muslime, der Reis Ulema Mustafa Cevic“, so Marieluise Beck. Er unterstrich dabei , daß es nie darum gegangen sei, einen muslimischen Staat zu schaffen – „das spräche gegen die Idee des bosnischen Islam, der von der geistigen Befruchtung und dem Miteinander mit anderen Religionen geprägt war.“

Und so dürfe auch die deutsche Linke, die sich damit schwertut, die serbische Regierung faschistisch zu nennen, da sie aus der alten kommunistischen Partei hervorgegangen ist, Bosnien nicht vergessen. Marieluise Beck kämpft dagegen an, indem sie immer wieder nach Bosnien fährt – auch wenn der Anblick des Horrors so sehr wehtut. Susanne Kaiser