Knochen, die Geschichte schreiben

Puzzlespiele an der Wiege der Menschheit / Aus Knochen und Kiefern wird unser Stammbaum zusammengesetzt Unsere Vorfahren waren Umweltflüchtlinge / Eine große Dürre vertrieb sie aus dem südlichen Afrika  ■ Von Andreas Sentker

Im Sommer 1993 wird am Universitätsklinikum in Utrecht ein ungewöhnlicher Patient eingeliefert. In der Röhre des Computertomographen liegen die Überreste eines Urmenschen, der vor etwa 2,4 Millionen Jahren in Ostafrika lebte. Der Darmstädter Paläontologe Friedemann Schrenk und seine Kollegen hatten den fast vollständig erhaltenen Unterkiefer schon 1991 an der Westküste des Malawi-Sees geborgen. Mit Hilfe des modernen medizinischen Diagnoseverfahrens versuchen die Wissenschaftler, die Antwort auf eine der ältesten Fragen der Menschheit zu vervollständigen: Woher kommen wir?

Charles Darwin vermutete schon 1871, die Stammesgeschichte des Menschen habe in Afrika begonnen. Der Schwarze Kontinent als Ursprung der Menschheitsgeschichte, diese Vorstellung bereitete seinen Zeitgenossen mehr als Unbehagen. Als 1912 aus einer Kiesgrube in England ein vollständig erhaltener Schädel geborgen wird, ist nicht nur das wissenschaftliche Weltbild wieder zurechtgerückt. Die traditionsbewußten Briten haben es schon immer geahnt: Die Wiege der Menschheit stand nahe am Königshaus. Der sogenannte „Piltdown-Schädel“ aber erweist sich Jahre später als Fälschung.

Im südafrikanischen Taung entdeckte dann 1924 ein Minenarbeiter den Schädel eines Affenmenschen-Babys. Dieser „südliche Affe“ Australopithecus africanus lebte vor mehr als zwei Millionen Jahren. Paläontologen stoßen in Südafrika auf weitere Spuren menschlicher Vorfahren. Im Osten begibt sich das Forscherehepaar Mary und Louis Leakey auf die Suche nach den Urahnen des Menschen. Mit ihren Entdeckungen 1959 in der Olduvai-Schlucht in Tansania beginnt eine außergewöhnliche Serie von Homonidenfunden. Im November 1974 stößt eine amerikanische Expedition unter Leitung von Donald Johansen in Äthiopien auf die ältesten erhaltenen Fossilien der Menschheitsgeschichte. Johansen und sein Kollege Tim White bezeichnen die Spezies als Australopithecus afarensis. In der Nacht nach dem Fund kann im Camp niemand schlafen. Aus dem Kassettenrecorder dudelt immer wieder der Beatles- Song „Lucy in the Sky with Diamonds“. Am nächsten Morgen hat die Hominidenfrau schnell einen Kosenamen: Lucy. Erst Ende 1993 wird ein Schädel der Lucy-Sippschaft gefunden. Das Puzzle ist wieder um ein Bruchstück vollständiger.

Zwischen den ostafrikanischen Fundstellen und Fossilien im Süden klafft eine große geographische Lücke. Trotz der räumlichen Distanz finden die Forscher jedoch deutliche Parallelen zwischen den Funden. Einige Paläontologen vermuten eine Wanderroute der Vormenschen entlang der Seen in Ostafrika. Auch die bisher offene Lücke zwischen den ältesten Funden und modernen Formen gibt Anlaß zu vielen Spekulationen. Als Friedemann Schrenk und sein New Yorker Kollege Timothy Bromage auf einem Satellitenfoto am Rande des Malawi-Sees ausgedehnte Sedimentzonen entdecken, steht der Ausgangsort für ihre Untersuchungen fest. 1938 rufen sie das Hominid Corridor Research Project ins Leben, um die Wanderroute unserer Urahnen zu ergründen.

Lange Zeit treffen die Paläontologen vor allem auf die Überreste von Wirbeltieren. In der Nähe von Uraha in Malawi wird dann 1991 endlich der Kiefer eines frühen Hominiden geborgen. Er erhält die Bezeichnung UR 501. In ihrer Hochstimmung brechen die Wissenschaftler die durchgehende Numerierung ihrer Funde, das legendäre Jeans-Zitat muß sein. Der robuste Knochen des Kiefers verweist auf eine Verwandtschaft mit Lucy, die Feinstruktur des Zahnschmelzes aber offenbart überraschend Ähnlichkeiten mit dem Homo habilis, der bisher als Vorläufer der Menschheit angesehen wurde. Der Unterkiefer stellt ein echtes paläontologisches Bindeglied dar.

Der aufsehenerregende Fund aber hat einen Schönheitsfehler, am letzten Backenzahn fehlt ein etwa acht mal neun Millimeter großes Bruchstück. Im nächsten Jahr schlämmen drei Mainzer Studenten an der Fundstelle sechs Wochen lang Tonnen von Sediment. Am vorletzten Tag der Expedition wird wahr, woran keiner der Teilnehmer mehr geglaubt hatte. Ein unscheinbar graues, kaum erkennbares Zahnfragment paßt in den mitgebrachten Kieferabguß. Der Zahn ist vollständig, alle sieben Zahnhöcker sind gut erkennbar, ein wichtiges Merkmal für die Einordnung des Fundes.

Schrenk und seine Kollegen ordnen den Kiefer einer bereits 1986 beschriebenen, bisher jedoch wenig beachteten Art zu, dem Homo rudolfensis. Der robuste Hominide steht dem sehr viel graziler gebauten Homo habilis gegenüber. Wie zuvor bei den Vormenschen scheint es auch bei den Urmenschen mehrere Entwicklungslinien zu geben. Das tropische Klima Ostafrikas wirkt immer wieder wie ein Katalysator für entscheidende Evolutionsschritte. Neue Hominidenarten, vermutet Schrenk, sind nur in Ostafrika entstanden.

Der Darmstädter Paläontologe kann jetzt ein Modell zur Ausbreitung der Hominiden in Afrika entwickeln. Vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann in Afrika eine Trockenphase, die sich im Süden sehr viel stärker auswirkte als im feuchteren Osten. Die Menschen mußten vor der Dürre fliehen. Australopithecus africanus wanderte während dieser Zeit in Ostafrika ein und entwickelte sich dort zum Homo habilis. Bisher hatte man geglaubt, Lucy sei der Vorfahre dieser grazilen Hominidengattung. Von ihr aber, so vermutet Schrenk, leitet sich der robuste Homo rudolfensis ab.

Die nächste Generation unseres Stammbaums, der Homo erectus, lebte zeitgleich mit seinem entfernten Verwandten Homo habilis. So stammen unsere Vorfahren wohl nicht, wie bisher angenommen, vom Homo habilis, sondern vielmehr vom Homo rudolfensis ab. Solche Hypothesen aber bleiben ein Puzzlespiel. Schrenk kennt die Grenzen seines Metiers: „Mehr als 99,9 Prozent der Menschheitsentwicklung sind nicht durch Fossilienfunde abgedeckt, statistisch steht uns zur Rekonstruktion von hundert Generationen nur ein Individuum zur Verfügung.“

Unterdessen können die Wissenschaftler mehrere Auswanderungswellen verzeichnen. Unsere Vorfahren verließen Afrika in Richtung China und Europa. Die kürzlich vorgenommene Neudatierung eines Fundes in Java hatte die Diskussion um die multizentrische Entstehung von Hominidenformen an verschiedenen Orten unabhängig voneinander neu belebt. Schrenk aber nimmt die nun auf 1,8 Millionen Jahre geschätzten Fossilien als Zeichen dafür, wie früh unsere Urahnen sich bereits von Afrika aus auf den Weg in neue Lebensräume machten. „Es war wohl nicht, wie bisher angenommen, der Homo erectus vor 1,5 Millionen Jahren, sondern möglicherweise sogar der Homo rudolfensis, der sich 300.000 Jahre früher auf den Weg nach Indonesien machte.“ Auf einer Tansaniaexpedition entdeckte der Darmstädter Paläontologe vor vier Wochen primitive Steinwerkzeuge in einer 2,6 bis 2,7 Millionen alten Sedimentschicht. Bisher hatte man keine Werkzeugkultur vor dem Auftreten des Homo habilis nachweisen können. Funde in Äthiopien bestätigen die Ergebnisse der deutschen Ausgräber.

Werkzeuge und Feuer galten als die Grundvoraussetzungen für die prähistorischen Umzugsunternehmungen. Die neuen Funde weisen auf recht frühe Wanderungsmöglichkeiten hin. Eine multizentrische Entstehung wird nur noch für das Auftreten des modernen Homo sapiens ernsthaft diskutiert. Der Fund von 200.000 Jahre alten Knochenresten in China lieferte den Vertretern dieser Hypothese neue Argumente. Doch bereits vor einigen Jahren haben sich Sprachforscher und Molekularbiologen in die Diskussion eingeschaltet. Sowohl linguistische wie auch genetische Verwandtschaftsverhältnisse lassen wiederum Afrika als Wiege auch des modernen Menschen erscheinen. Das erste Wort bezeichnete den Finger und lautete schlicht „tik“.