Leichengestank hängt in der Luft

Im Südwesten Ruandas beseitigen die Regierungsmilizen die Spuren der Massaker / Hoffnung auf die Franzosen  ■ Aus Nyamacheke Bettina Gaus

Es wird Hochzeit gefeiert in Ruanda. Frauen in weißen Kleidern, bestickt mit Spitzenbesatz und Plastikblumen, stehen neben Männern in dunklen Anzügen auf dem Vorplatz der Kirche in der südwestruandischen Gemeinde Nyamacheke. Vier Brautpaare werden heute hier in einer kleinen Seitenkapelle getraut. Die Umstände erzwingen einen gemeinsamen Gottesdienst für alle: In der riesigen Klosteranlage, die bis vor wenigen Monaten auch eine Schule beherbergte, gibt es keine Priester mehr. Er sei schon im April geflohen, erzählen Umstehende. Ein Geistlicher aus einer Nachbargemeinde ist hierhergekommen, um die Zeremonie zu vollziehen – die erste Hochzeit in Nyamacheke seit Monaten.

Die Festgemeinde ist klein. Kaum hundert Gäste haben sich für die vier Paare versammelt. In Friedenszeiten ist bei jeder Hochzeit das ganze Dorf auf den Beinen. Unter den Anwesenden stehen jetzt auch einige hochgewachsene Männer und Frauen, die dem klassischen Bild der Tutsi-Ethnie zu entsprechen scheinen, jener Bevölkerungsminderheit, deren Angehörige in den letzten Monaten vor allem Opfer der Massaker in Ruanda geworden sind.

„Ja, es gibt hier auch Tutsi, die bisher versteckt worden sind“, bestätigt der Geistliche Abbé Thaddée Ngiriushuti. „Sie kommen heute zum ersten Mal heraus, weil sie jetzt nach Ankunft der französischen Truppen weniger Angst haben, umgebracht zu werden.“ Dieses Vertrauen kann gefährlich sein. Außerhalb einiger ausgewählter Flüchtlingslager ist in der Region von den ausländischen Soldaten nichts zu sehen. Noch immer kontrollieren dagegen Regierungsmilizen alle paar Kilometer an Straßensperren sorgfältig Papiere der Durchreisenden – in Ruanda ist die ethnische Zugehörigkeit im Personalausweis vermerkt.

Angehörige der Milizen haben auch eine Barrikade vor dem Zugang zur Klosteranlage von Nyamacheke errichtet. Nur unwillig lassen sie uns passieren, nachdem wir eine Genehmigung des Präfekten der Stadt Cyangugu vorweisen, die uns völlige Bewegungsfreiheit innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs garantiert. „Wir haben nichts zu verbergen“, hatte Präfekt Emmanuelle Bagambiki versichert. Das scheinen die Milizen anders zu sehen. Genauestens werden wir beobachtet, bei jedem Gespräch hören sie zu.

Die Hauptkirche von Nyamacheke ist ein gewaltiger Backsteinbau. Uneinnehmbar scheinen ihre dicken Mauern zu sein. Wer sich hierher geflüchtet hat, mag sich in Sicherheit gewiegt haben. Doch offenbar zu Unrecht: Die Türen sind aus den Angeln gerissen, die Fenster zerbrochen. Die Wände im Inneren des Gebäudes sind voller Einschußlöcher. Einige Frauen säubern das verlassene Gotteshaus, dessen Boden über und über verschmutzt ist. Hunderte, vielleicht Tausende, müssen sich hier aufgehalten haben. Wo sind sie jetzt?

Hinter der Kirche liegen Spaten neben frisch aufgeworfenen Erdhügeln, die mit Steinen bedeckt sind. Junge Männer mit Macheten stehen unweit scheinbar untätig in der Sonne. Alle verräterischen Spuren, die auf ein Massaker hindeuten, lassen sich beseitigen – bis auf eine: der schwere, süßliche Leichengestank, der in der Luft hängt.

Derselbe Geruch liegt auch über dem einige Kilometer nördlich gelegenen Konvent von Hanika am Kivusee. Wir haben keine Gelegenheit, die Kirche zu betreten, deren Fenster und Türen ebenfalls zerbrochen sind. Ein Auto hält mit quietschenden Reifen. Einige Männer springen heraus, verlangen drohend unsere Papiere. „Die Erlaubnis des Präfekten bedeutet hier gar nichts“, erklärt einer von ihnen barsch. „Das hier ist Privatgelände. Sie können auch nicht einfach in das Wohnzimmer von jemandem eindringen. Zu sehen gibt es hier sowieso nichts.“ Er sei hier die lokale Autorität, und er verbiete uns den Zutritt.

Im Gespräch wird der etwa 50jährige Mann zugänglicher, bleibt in der Sache allerdings hart. Er sei aus der Hauptstadt Kigali geflohen, dort habe er in einem Ministerium gearbeitet. Offenbar an hochrangiger Stelle: Dieser Mann ist daran gewöhnt, Befehle zu erteilen, und erwartet, daß sie befolgt werden. Haben wir hier einen der Verantwortlichen für die Massaker der letzten Monate vor uns?

Journalisten, die andere Teile der Region bereist haben, berichten ebenfalls von einer allgemeinen „Säuberung“ der Kirchen in der Umgebung. Im Osten Ruandas waren in Gotteshäusern Hunderte von Leichen gefunden worden, nachdem die RPF (Patriotische Front Ruandas) die Gebiete erobert hatte. Bis hierher, in die Präfektur Cyangugu, ist die Rebellenbewegung niemals vorgedrungen. Erst nach Ankunft der französischen Truppen scheinen Verantwortliche es jetzt für geboten zu halten, Beweise für Greueltaten zu vernichten. Von Anarchie keine Spur: Die zeitgleichen Aktivitäten an verschiedenen Orten sind ein eindeutiger Beweis dafür, daß die Eliten noch immer einem zentralen Kommando gehorchen.

Der Südwesten Ruandas galt bereits vor dem neuen Ausbruch der Gewalt in dem zentralafrikanischen Land als Hochburg extremistischer Vertreter der Hutu-Mehrheit, die jede Teilung der Macht mit der RPF, die der Friedensvertrag von Arusha vom letzten Jahr vorgesehen hatte, ablehnend gegenüberstehen. Die politische Linie drückt sich sogar in der Kleidung aus. Junge Männer an den Straßensperren tragen T-Shirts mit dem Porträt des am 6. April getöteten Präsidenten Juvénal Habyarimana oder leuchtend rosa Hemden mit dem Aufdruck „Zehn Jahre MRND“ und der Inschrift „Interahamwe“. Das bedeutet: „Die, die gemeinsam angreifen“ und ist der Name jener berüchtigten Miliz der ehemaligen Einheitspartei MRND („Revolutionäre Nationale Bewegung für die Entwicklung“), die von Augenzeugen für zahlreiche Massenmorde verantwortlich gemacht wird.

Die französischen Truppen sind hier begeistert empfangen worden. Tausende schwenkten kleine Fähnchen am Wegesrand, an fast jeder Straßensperre wird die Interventionsmacht mit großen Plakaten willkommen geheißen. Im Lager Kirambo haben sich ungefähr 2.000 Hutu-Flüchtlinge aus Regionen versammelt, die in den letzten Wochen von der RPF erobert worden sind. Sie setzen große Hoffnungen in die Armee: „Wir erwarten, daß die Franzosen den Krieg beenden“, sagt Jean-Baptiste Nsaziumuh, und sein Freund Emmanuelle Ndagijimana, ein 28jähriger Volksschullehrer, ergänzt: „Wenn es möglich wäre, würden wir Ruander wollen, daß die Franzosen Seite an Seite mit der ruandischen Armee kämpfen. Man muß die RPF verjagen, sonst werden wir alle sterben.“

Französische Offiziere versuchen, dem Eindruck entgegenzuwirken, in das Kriegsgeschehen eingreifen zu wollen: „Wir haben den ruandischen Soldaten hier als erstes erklärt, warum wir gekommen sind“, sagt Hauptmann Didier Thibaut in dem Tutsi-Flüchtlingslager Nyarushishi, dem ersten Einsatzort der ausländischen Truppen. „Wir sind nicht gekommen, um der Armee in ihrem Krieg gegen die RPF zu helfen, sondern um die Sicherheit der Bevölkerung wiederherzustellen.“ Das bedeutet eine Kehrtwende in der französischen Politik. Die Regierung in Paris gehörte zu den letzten ausländischen Mächten, die das Regime Habyarimana mit Waffenlieferungen und Militärberatern unterstützt hatten. 1990 hatten französische Truppen kurz nach Ausbruch des Bürgerkrieges den Vormarsch der RPF auf die Hauptstadt Kigali gestoppt.

Den Rückhalt der RPF bilden Nachkommen von Tutsi-Exilruandern, die ins Ausland geflüchtet waren, nachdem die Hutu-Mehrheit Ende der fünfziger Jahre die jahrhundertelang herrschende feudalistische Minderheit von der Macht vertrieben hatte. „Das einzige Problem in Ruanda sind die Tutsi und die RPF“, meint der geflüchtete Lehrer Emmanuelle Ndagijimana. Betrachtet er alle Tutsi als Anhänger der RPF, also als Feinde? „Na ja, es mag Ausnahmen geben, aber generell kann man das so sagen.“

Vor der Präfektur in Cyangugu exerzieren etwa siebzig Männer in Zivil. Stöcke ersetzen Gewehre, angeleitet werden sie von zwei uniformierten Soldaten. „Die RPF hat auf allen Hügeln ihre Leute“, sagt der Präfekt Emmanuelle Bagambiki, „und es sickern immer mehr hier herein, deshalb müssen wir die zivile Verteidigung organisieren.“ Der Krieg sei ein Kampf der gesamten Bevölkerung gegen die RPF.

Wie werden sich die französischen Truppen verhalten, wenn die militärisch derzeit äußerst erfolgreiche Rebellenbewegung Angriffe auf ein Territorium beginnt, in dem die Interventionsmacht präsent ist? Und was werden die ausländischen Soldaten tun, wenn sogenannte RPF-Angehörige in der Region weiterhin getötet werden? Mindestens teilsweise scheint Hauptmann Thibaut die Lage ähnlich einzuschätzen wie der Präfekt von Changugu: „Ganz sicher gibt es hier in der Gegend RPF- Mitglieder, das ist schließlich eine Guerillaorganisation.“ Kontakt zu ihnen habe er allerdings „definitiv nicht“.

Bislang ist im Südwesten nur gemordet, nicht aber gekämpft worden. Das Leben scheint für den größten Teil der Bevölkerung hier weitgehend seinen normalen Gang zu nehmen: Inmitten von Teeplantagen haben sich einige hundert Männer und Frauen versammelt. „Sie warten auf ihren Wochenlohn“, erklärt ein Posten an einer Straßensperre. Vor dem Geschäftszentrum einer anderen Gemeinde am Kivusee lassen Bauern Säcke voller geernteter Kaffeebohnen liegen, die sie hierher zum Verkauf gebracht haben. Auf Märkten werden Obst, Gemüse, Reis und Kleider feilgeboten.

Im „Hotel du Lac“ in Cyangugu ist von Mangel nichts zu spüren, es gibt Strom und sogar fließendes warmes Wasser. Nur die Zusammensetzung der Gäste deutet darauf hin, daß dieses Land sich im Krieg befindet. Wohlhabende Geschäftsleute und hochrangige Beamte aus Kigali haben sich mit ihren Familien hierher zurückgezogen. Auf dem Parkplatz stehen Luxuskarossen: BMW, Mercedes, Audi. Diese Besitzer hätten keinen weiten Weg zurückzulegen, um ins sichere Exil zu gelangen. Cyangugu liegt unmittelbar an der Grenze zu Zaire, einem Land, zu dem Ruandas Regierung ebenfalls freundschaftliche Beziehungen unterhält. Jetzt aber hoffen viele darauf, daß ihnen die Flucht vor der RPF erspart bleibt – und daß sich die Ereignisse der letzten Monate in der Region mit dem Schleier des Geheimnisses bedecken lassen: Als wir zwei Stunden nach unserem Besuch in der Klosteranlage von Nyamacheke auf der Straße zurückfahren, ist das Hinweisschild, das uns den Weg zur Kirche gewiesen hatte, mit einem dicken Tuch verhängt.