Der Stein des Anstoßes

In Neuhaus/DDR wurde vor 40 Jahren der Gedenkstein für den Kolonialisten Carl Peters verbuddelt. Nun soll der Stein für den bekanntesten Sohn von Neuhaus/Niedersachsen wieder aufgestellt werden  ■ Von Jürgen Voges

Links und rechts gedrungene zweigeschossige Häuser aus rotem Backstein, auf der Fahrbahn grobes Pflaster – die Lüneburger Straße, die nach der neuen Kreisstadt von Neuhaus heißt, führt direkt auf den Stein des Anstoßes zu. Der liegt flach im Vorgarten des Pfarrhauses an einer Kreuzung in der Ortsmitte: ein zweieinhalb Meter messender gelblichgrauer Findling. Gegenüber erinnert der verwitterte Neonschriftzug des alten „Konsum“ daran, daß das althannoversche Amt Neuhaus auf dem nordöstlichen Elbufer noch nicht lange zu Niedersachsen gehört. Der Findling, zu DDR-Zeiten vergraben, über dem schon eine veritable Fichte gewachsen war, erinnert an fernere deutsche Vergangenheit. „Unserem Dr. Carl Peters, Begründer von Deutsch-Ost- Afrika, geb. 27.9.1856“ ist in die jetzt gen Himmel weisende Frontseite des Steins eingemeißelt.

Das Pfarrhaus, gerade renoviert, mit frischroten Ziegeln eingedeckt, ist das Geburtshaus von Carl Peters. Der Kolonialist, Abenteurer und völkische Schriftsteller ist sozusagen der berühmteste Sohn der kleinen Gemeinde, die in Neuhaus selbst 2.000 und in ihren übrigen fünf Ortschaften noch einmal 4.000 Einwohner zählt. Der Stein zu Peters' Ehren wurde einst von der Deutschen Kolonialgesellschaft gestiftet und mit Zustimmung des Stadtrates im Jahre 1931 im Pfarrgarten aufgestellt. Die meiste Zeit ruhte der Findling allerdings unter der Erde. Auf Beschluß der SED-Kreisleitung wurde das Erinnerungsstück an den Kolonialisten im Jahre 1951 fachmännisch von Bauhandwerkern im Boden versenkt. Erst nach der Wende, als das alte Amt Neuhaus als einziges Gebiet der DDR in ein westliches Bundesland, nach Niedersachsen, umgegliedert wurde, holte man den Gedenkstein wieder ans Tageslicht.

Sowenig die SED von Carl Peters wissen wollte, so hoch stand dessen Name während des deutschen Faschismus im Kurs. Die Nazis sahen in ihm einen ihrer Vorläufer, ein frühes Exemplar des deutschen Herrenmenschen – zu Recht: „Kolonialpolitik will nichts anderes als die Kraftsteigerung und Lebensbereicherung der stärkeren besseren Rasse auf Kosten der schwächeren geringeren, die rücksichtslose und entschlossene Bereicherung des eigenen Volkes auf anderer schwächerer Völker Unkosten“, schrieb der im übrigen eher erfolglose Kolonialist im Jahre 1886, nachdem er Gebiete im heutigen Tansania „erworben“ hatte. Weil Peters auch so handelte, wie er schrieb, vergaß die DDR-Geschichtsschreibung später seinen Beinamen „Hängepeters“ nie. Aber auch der renommierte westdeutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler beschreibt Peters wenig schmeichelhaft als einen „erfolgsarmen, gerichtsnotorisch kriminellen Psychopathen“, der „bereits eine explosive Mischung von pangermanistischen, antisemitischen, unverhohlen rassistischen Ideen vefocht“.

In Neuhaus liegen Pfarrhaus und Rathaus nur gute hundert Schritte auseinander. Verwaltung und Gemeinderat haben ihren Sitz in einem der sechs Fachwerkhäuser mit nach unten gezogenen Dächern, die sich um die größte, doch wenig befahrene Kreuzung des Ortes gruppieren. Vor dem Rathaus ein von sieben Linden umstandenes Rasenrondell mit einem leeren Denkmalsockel. Daneben die Kneipe namens Lindenhof, das schon modernisierte Gebäude der Raiffeisenkasse und das Krankenhaus. Drinnen im Rathaus hängt gleich am Eingang eine Tafel mit „Daten zur Geschichte von Neuhaus“. Sie beginnt mit der ersten urkundlichen Erwähnung des „nyen huses“ im Jahre 1369 und endet nach zwölf weiteren Stationen im Jahre 1856: „Dr. Carl Peters als Sohn des Neuhauser Pastors im Pfarrhaus geboren“. Die Tafel sei erst kürzlich aufgehängt worden, eine zweite auch mit weiteren Informationen zu Carl Peters werde bald folgen, versichert der Gemeindedirektor.

Auch die Germania soll zurückkehren

Hannover, das seit Juli letzten Jahres wieder die Landeshauptstadt von Neuhaus ist, hat seinen Carl- Peters-Platz vor einiger Zeit umbenannt. Die alten Straßenschilder dort sind rot durchgestrichen, darunter hängen die neuen: Bertha- von-Suttner-Platz. In Neuhaus hat man nach der Wende die Karl- Marx-Straße in jene Lüneburger umgetauft, über die man hinunter nach Darchau zur Elbfähre gelangt, mit der allein die neue Kreisstadt Lüneburg zu erreichen ist. Auf dem leeren Denkmalsockel vor dem Rathaus möchte der Neuhauser Bürgerverein eine Germania wiederaufgestellt sehen, die die DDR-Zeit nicht überstanden hat. Die füllige wehrhafte Dame erinnerte einst an Reichsgründung und den Sieg über Frankreich im Jahre 1871. Statt Karl Marx nun Carl Peters und die Germania. Hier nördlich der Elbe, wo sich Äcker, Weiden und Kiefernwäldchen idyllisch abwechseln, werden nach dem Ende der DDR die schlechten deutschen Traditionen wortwörtlich wieder ausgegraben.

Doch in Neuhaus spricht man nicht mehr gern über Carl Peters, seit man wegen des Steins ins Gerede gekommen ist, seit sogar das Regionalprogramm des Fernsehens eine Live-Diskussion vor Ort über den Findling ins Programm genommen hat. An jenem Tag hatten offenbar alle gerade etwas anderes vor: die Frauen, die beim Bäcker stehen; Jungen gründeten just am diesem Tag gerade im Lindenhof ihren Werner-Club. „Der heißt so nach Werner beinhart“, meint die blonde Wirtin, „macht viel mit den Jugendlichen Ausflüge, Bootsfahrten“, und murmelt, daß das schließlich wichtiger sei als der Stein. Dabei haben die Jugendlichen, die auch auf Werner stehen, als erste in einem Flugblatt die Frage gestellt, ob man nicht den damals noch vergrabenen Carl-Peters-Gedenkstein wieder aufstellen solle.

„Bei der Fülle der Probleme, die wir haben, ist der Stein sicher nicht das allergrößte“, sagt Günter Elbing, der Bürgermeister von Neuhaus. Der 34jährige Sozialdemokrat spricht vom zentralen Klärwerk, das gebaut werden müsse, vom Trinkwasserleitungsbau, der wegen der schlechten Wasserqualität dringend notwendig sei, aber allein acht Millionen Mark koste, und vom Ausbau der 150 Kilometer Straßen der Gemeinde. „Wir können diese Probleme nicht in 40 Jahren wie die alten Bundesländer abarbeiten“, sagt Elbing, im Hauptberuf selbständiger Handwerker, „gelernter Schlosser und Kraftfahrer“. Die Abwässer und der in der Elbtalaue geplante Nationalpark waren Themen der letzten Info-Veranstaltung des Bürgervereins. Gegen den Nationalpark in der Elbtalaue liegen in den Gaststätten Unterschriftenlisten aus. Zumindest der Bürgerverein fühlt sich schlecht informiert, bei der Nationalparkplanung übergangen, fordert Vorrang für die Wirtschaft und sieht die Anlieger an der Elbe reglementiert, fast wie „in einem zweiten Grenzgebiet“.

In Neuhaus war am Tag der Niedersachsenwahl auch der Gemeinderat neu zu wählen – nun nach niedersächsischem Recht. Bürgermeister Elbing ist erst seit März im Amt. Auch er hat für den Übertritt von Neuhaus nach Niedersachsen votiert, hätte sich aber in dem dazu abgeschlossenen Staatsvertrag detailliertere Übergangsregelungen gewünscht. „Das hätte ruhig noch länger dauern können“, sagt er.

Günter Elbing will auch die Sache mit dem Gedenkstein gut im Gemeinderat überlegt sehen. „Wir befinden uns noch in der Meinungsbildung“, sagt er. „Erstens ist der Stein da, es gibt ihn. Zweitens beginnt Vergangenheitsbewältigung schon früher als der Erste oder Zweite Weltkrieg.“ Die SPD wolle den Stein nur mit einem eindeutigen Hinweis auf die umstrittene Person Carl Peters aufgestellt sehen, ein ziemlicher Nationalist sei der gewesen. Allerdings habe letztlich nicht der Rat über den Stein zu befinden. „Schließlich befindet er sich auf Kirchenland, und der Gemeinde gehört er nicht“, erklärt sich der junge Bürgermeister für unzuständig. Außerdem habe er gerade aus Hannover wegen Carl Peters eine Reihe Jubelbriefe aus der nationalistischen Ecke bekommen. „Der Herr Pastor hat nicht wenig Anteil am Ausgraben“, sagt er noch und, daß der Herr Hüls über die Geschichte am besten Bescheid wüßte.

Der Neuhauser Pastor Friedrich Härke kommt wie die Briefe aus dem Westen. Der Mittvierziger ist in Hannover aufgewachsen. Solange das Pfarrhaus nicht instand gesetzt ist, pendelt er noch täglich über die Elbe. Für den Gottesmann gilt der Stein zugleich als „ein bautechnisches Problem und eine historische Bürde“. Der Findling störte schlicht bei der Renovierung des Pfarrhauses: „Die Mauer, wo er lag, war sehr naß, wir mußten dort aufgraben und von Grund auf neu mauern und verfugen.“ Jetzt könne man den Stein allerdings nicht einfach wieder versenken. Er sei ein Stück Geschichte, mit dem man sich auseinandersetzen müsse, und dies geschehe auch. Im übrigen gehöre der Findling allerdings eindeutig der Gemeinde, schließlich sei er im Jahre 1931 auf Beschluß des Rates aufgestellt worden. „Es gibt keine Republikaner oder ähnliches in Neuhaus“, sagt der Pastor noch, und die Jugendlichen aus dem Club, die sich zuerst für den Stein interessiert hätten, stünden am ehesten der SPD nahe.

Wie Carl Peters unter die Erde kam

Gut hundert Schritte vom Pfarrhaus entfernt in der Kirchstraße wohnt Werner Hüls. Der engagierte alte Herr war früher Vorsitzender des Kulturbundes in Neuhaus, er will ein Heimatmuseum gründen. Der pensionierte Schulrektor ist der Historiker der Gemeinde. Im Jahre 1951, so berichtet er, haben am Vorabend des 95. Geburtstags von Carl Peters Mitglieder der FDJ den Gedenkstein mit Blumen geschmückt. Diese wurden daraufhin festgenommen und haben wohl anschließend Schwierigkeiten in der Schule bekommen. Erst nach diesem Ereignis wurde der Stein auf Beschluß der SED und der Gemeinde fünfzig Zentimeter tief im Boden versenkt. „Natürlich gibt es sehr wohl Äußerungen von Carl Peters, die ihn als Rassisten ausweisen“, sagt Hüls. In einem Heimatmuseum müsse man eine reguläre Auseinandersetzung mit seiner Person führen.

„Interessant nach der Wende war der Stein aber wegen des Vorfalls in den fünfziger Jahren.“ Und auch die Geschichte der Germania auf dem Platz vor dem Rathaus weiß Herr Hüls zu erzählen. Auch wenn es viele im Ort glauben, die streitbare Dame ist keineswegs aus parteiideologischen Gründen vom Sockel gehoben worden, sondern vor gut zehn Jahren schlicht aus Altersschwäche umgekippt. Ihr Schwert kam schon im Jahre 1945 abhanden. Ein amerikanischer Soldat soll die Figur entwaffnet und sich so ein Souvenir aus Neuhaus beschafft haben.