Die Vervielfältigung des Autors

Lose Handlungsstränge: Die zweite Bonner Biennale „Neue Stücke aus Europa“  ■ Von Gerhard Preußer

Autor wäre jeder gerne, zumindest seines eigenen Lebens. Interpret nur einer vorgefundenen Lebensform will heute niemand sein. Im Theater läßt sich das besonders gut beobachten. Schauspieler, Lightdesigner, Regisseur, Textproduzent – keiner will Nachschaffender sein, alle gleich Urheber. Daß nur der Schriftsteller Theaterautor genannt wurde, war schon immer eine Ungerechtigkeit. Heute erst recht.

Die Bonner Biennale versteht sich als Festival der europäischen Theaterautoren, ursprünglich meinte man damit: Stückeschreiber. Die gerade zu Ende gegangene zweite Biennale zeigte die Schwierigkeit, zu verstehen, was das Wort Autor auf dem Theater heute meint.

Am Anfang stand das Stück eines Autors über einen Autor oder die Interpretation eines Interpreten einer Interpretation: „Street of Crocodiles“. Simon McBurney, Leiter des Londoner „ThéÛtre de Complicité“, hat Erzählungen von Bruno Schulz, dem polnisch-jüdischen Schriftsteller und Maler, als Grundlage für Improvisationen mit Schauspielern verwendet, aus denen dann die Aufführung entwickelt wurde. Phantasie, Witz, Tempo und Sentimentalität dieser Aufführung bezauberten, erheiterten, überwältigten und rührten das Publikum wie schon vor einem Jahr in München beim „Theater der Welt“. „Wir wollen schöpferische Freude“, sagt darin der verschrobene, vor sich hin philosophierende Vater der Hauptfigur, „mit einem Wort: Göttlichkeit“.

Auch die beiden anderen herausragenden westeuropäischen Autoren waren Regisseure. Gerardjan Rijnders und Albert Boadella erarbeiten für und mit ihren Gruppen – der Toneelgroep Amsterdam bzw. den Els Joglars Barcelona – Aufführungen, denen kein vorausgedachtes oder geschriebenes, von der Inszenierung unabhängiges Kunstwerk aus Figurentext und Szenenanweisungen zugrunde liegt. Tankred Dorst, zusammen mit Manfred Beilharz, dem Intendanten des Bonner Schauspiels, künstlerischer Leiter des Festivals, meinte, Theaterautoren wie er selbst seien heute fast Fossile, Überreste einer veralteten Arbeitsteilung im Theater. Wie in der Physik die Fiktion des Laplaceschen Dämons, der alle Kausalketten im voraus überschauen kann, sinnlos geworden ist, so läßt sich heute der Theaterautor auch nicht mehr als der „erste Beweger“ (Dorst) des Theaters verstehen. Der Theaterautor verschwindet nicht, er vervielfältigt sich.

„Count your Blessings“, Rijnders' im letzten Jahr entstandene und nun auf der Biennale gezeigte Produktion, beginnt mit Dialogfetzen einer elegant gekleideten Gruppe von Partyschwätzern: „Natürlich haben die Menschen Angst vor der Begegnung mit ihrem Mittelpunkt, aber nur bei Menschen, die diesen Mittelpunkt suchen, findet man diese Angst. / Ein Zuckerwürfel bekommt doch auch die Chance sich aufzulösen.“ Durch sie hindurch und an ihnen vorbei gehen schweigend fremde, schrille Gestalten. Dann hebt sich der Vorhang und zeigt die eigentliche Szene, ein Haus mit acht Zimmern, in denen die Fremden hausen, ein Emigrantenheim. Simultan sehen wir die Bewohner bei alltäglichen und seltsamen Verrichtungen: Be- und Entkleiden, Tanzen, Scheißen, Beten. Die holländische Partygesellschaft erscheint in einem leeren Zimmer, und nun beginnt die Interaktion zwischen der etablierten Gruppe und den Außenseitern. Ausbeuterisch, brutal, zerstörerisch und befreiend ist die Begegnung beider Gruppen.

Eine Ästhetik der Komplexität

Eine erzählbare Geschichte gibt es nicht, nur gleichzeitige Szenensplitter. Die geschlossene Gesellschaft der mit Wohlstand gesegneten Besitzbürger löst sich auf. Die Segnungen der Zivilisation erweisen sich als zerstörerisch. Das Eigene wird sich selber fremd. Eine rasende Tirade über die glorreiche Vergangenheit der holländischen Nation endet im hilflosen Achselzucken: „Irgendwo ist da etwas schiefgegangen.“ „Die Schöpfung war ein lumpiger Samenerguß, ein feuchter Alptraum Gottes“, lästert man fröhlich. „Daß ich das Preisetikett bin und nicht die Ware, die ich sein sollte, weiß ich ja“, klagt eine Frau und erschießt eine andere. „Ihr wollt keine Geschichten mehr, nur noch Krach“, beschwert man sich schon auf der Bühne. Am Ende des Hauptteils der Aufführung kommt noch einmal eine Durchsage an die Heimbewohner auf deutsch: „Erlaubt sind alle Kultursprachen, also kein Deutsch.“

Nun kommt ein Mann nach vorne und sagt uns, was er gerne wäre: „Die Masche, nicht das Netz, die Stille, nicht der Text.“ Dann zündet er den Kameramann an, der zuvor alle Szenen aufgezeichnet hatte. Das ist das Credo des heutigen Theaterautors: das Einzelne will er zeigen, nicht das Ganze; Urheber des Unaussprechlichen will er sein, nicht der Worte, fern von aller Verdopplung der Wirklichkeit durch die Kunst.

Die Aufführung verweigert scheinbar die von einem Theaterstück erwartete Komplexitätsreduktion. Sie ist so chaotisch wie das Leben. Dennoch hat sie eine Botschaft, die klarer nicht sein könnte. Ihre Ästhetik der hierarchielosen Simultaneität ist die Antwort auf die gestiegene Komplexität der Welt und auf unsere gewachsene Fähigkeit, mit diesen Zusammenhängen umzugehen.

Die ästhetischen Positionen der übrigen Stücke der diesjährigen Biennale waren so zahlreich wie die vertretenen Nationen: 26 neue Stücke gab es zu sehen aus 20 Nationen in 19 verschiedenen Sprachen. Das Spektrum reichte vom geschliffenen Konversationsstück in der Tradition Ibsens („Das Meer“ von Olafur Haukur Simonarson aus Island) über moderne Mytheninterpretationen (kurz und erschreckend: „Antigona“ von Dusan Jovanovic aus Slowenien, lang und ermüdend: „Die Geschichte die man niemals kennen wird“ von Hélène Cixous aus Frankreich) und die politische Satire (Ladislav Mnackos „Die Säuberung“ aus der Slowakei) bis zum konzeptualistischen Sprachspiel (Vladimir Sorokins „Der Unterstand“ aus Rußland).

Auch wenn das Festival „neue Stücke“ verspricht, so kann es doch nur Inszenierungen zeigen, nie die Stücke selbst. So prägen sich auch da, wo sich Inszenierung und Stück trennen lassen, Inszenierungen stärker ein. Der finnische Autor Esa Kirkkopelto hat sein Stück „Die Geschichte des Anarchisten Machno“ mit Laien, Studenten der Universität Helsinki, uraufgeführt.

Mit den einfachsten darstellerischen und technischen Mitteln, mit wenig Handwerk und viel Kunst erreicht der regieführende Autor mit dem Ylioppliasteatteri große Wirkungen. Die Gruppe rast als Machnos ukrainisches Bauernheer durch die Halle, angefeuert von einer Band, die einen heißen finnisch-ukrainischen Folk-Rock spielt. Mit wackelnden Bewegungen werden pantomimisch die Bürgerkriegsgreuel in theatralischer Stummfilmdokumentation präsentiert.

Ob diese szenische Biographie mehr ist als eine historische Reminiszenz an die Russische Revolution, wäre nur am Text zu entscheiden, die Inszenierung jedoch war die lebendigste, mitreißendste der Biennale.

Die Auferstehung des Theaters im Theater

Dieses Festival mit seinen fast durchweg ausverkauften Vorstellungen, dem gelösten und intensiven Diskussionklima, das von der Insidergruppe der Theaterleute auf das Stadtpublikum übergriff, verstand sich auch als Signal gegen die Theaterkrise. „Wenn man eine Stadt mit Theater vollpumpt, muß sie reagieren“, meinte Manfred Beilharz. Bonn reagierte mit Applaus.

Aber am Ende stand eine Aufführung, die mit ironischer Bitterkeit dem Theater seinen Untergang vorhersagt, genauer: den Tod des Staatstheaters. „El Nacional“, das Nationaltheater, heißt Albert Boadellas neues Stück. Wer vor zwei Jahren das artistisch und musikalisch virtuose Amerika-Stück derselben Truppe gesehen hatte, mußte überrascht sein über die Kargheit und Düsterkeit. Wie Roberto Ciullis „Teatro Comico“ vom Theater an der Ruhr Mülheim spielt das Stück nach dem Theatersterben. Das Nationaltheater ist geschlossen, die Gesellschaft hat sich für „funktionale Unterhaltung“ entschieden. Die abrißreife Theaterruine dient Pennern als Nachtquartier.

Vom alten Personal hausen nur noch der Logenschließer und eine Putzfrau, ehemals Operndiva, darin. Diese beiden lassen nun mithilfe willkürlich zusammengesuchter Penner und Straßenmusikanten die Theaterkunst auferstehen, die Beamtenkünstler, die Kulturberater, die Staatstheaterleiter zugrundegerichtet haben. Sie probieren Verdis „Rigoletto“. Der kunstgerecht gesungene Bühnentod Gildas, begleitet vom Rattern der Abrißmaschinen, wird so zur Auferstehung des Theaters. So wild die Aufführung mit komödiantischem Pessimismus gegen die Erstarrung der Staatsbühnen polemisiert, so optimistisch behauptet sie die Unsterblichkeit des Theaters.