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Gaza ist nicht mehr die gleiche Stadt

Beim Aufbau der neuen palästinensischen Selbstverwaltung fehlt es an allem / Das Geld kommt im Koffer, das Ministerium besteht aus drei Personen, für die Post fehlen die Briefmarken  ■ Aus Gaza Karim El-Gawhary

Das Postamt der palästinensischen Stadt Gaza ist frisch getüncht. Wer nun allerdings voller Erwartung versucht, die Dienste des neuen Amtes in Anspruch zu nehmen, wird jäh enttäuscht. Post kann hier nicht verschickt werden. Die neuen Briefmarken der palästinensischen Selbstverwaltung sind noch nicht gedruckt. Das Postamt als Symbol für die palästinensische Selbstverwaltung. Von außen strahlt es Optimismus und Neuanfang aus, während im Innern noch totales Chaos herrscht.

Zu den neuen Annehmlichkeiten, die sofort ins Auge springen, gehört in Gaza vor allem das Strandleben. Abends im Restaurant Al-Andalus weht eine frische Brise vom Meer, es riecht nach gebratenem Fisch. An den Tischen unterhalten sich die Leute angeregt über den neuesten Tratsch. Was als normale alltägliche Szene erscheint, ist für Gaza schon fast eine Revolution. Seit Beginn des palästinensischen Aufstands vor mehr als sieben Jahren herrschte im gesamten israelisch besetzten Gaza-Streifen eine nächtliche Ausgangssperre. Nachts fuhren nur die Jeeps der israelischen Armee durch die Straßen. Tagsüber war es verpönt, sich am Strand zu zeigen. Schließlich befand sich Gaza im Aufstand, und das selbst auferlegte Verbot, sich öffentlich zu vergnügen, war ein Teil dieses Aufruhrs.

Gaza ohne israelische Armee, ohne nächtliche Ausgangssperre, Gaza mit einem jahrmarktähnlichen Strandleben, das ist wie Berlin ohne Mauer. Ein fühlbarer Unterschied, nicht mehr die gleiche Stadt, etwas vollkommen Neues.

Auf der wenig ausgeleuchteten Straße entlang dem Meer geht es drunter und drüber. Keiner ist an die Dunkelheit gewöhnt, wie einer der Strandbesucher belustigt feststellt. Fußgänger müssen sich erst wieder darauf einstellen, daß sie nachts nicht gesehen werden, und die Autofahrer üben noch mit dem ab- und aufblenden.

Das Chaos auf den Straßen wird von einem noch größeren Chaos in der Verkehrsverwaltung ergänzt. Und nicht nur dort. Die neue palästinensische Polizei versuchte sich anfangs in der Verkehrsregelung, jedoch ohne das dem Verkehrspolizisten liebste Instrument: den Strafzettel. Ein Paradies für Verkehrssünder. Die palästinensischen Polizisten wollten nicht mit den alten israelischen Bußgeldbescheiden arbeiten, und neue sind noch nicht gedruckt. Jetzt sind sie dazu übergegangen, den Aufdruck „Israelische Zivilverwaltung“ auf den alten Quittungsblöcken mit dem Kugelschreiber durchzustreichen und ebenso provisorisch mit einem handgekritzelten al-sulta al-wataniya al-filasitiniya, „Palästinensische Nationale Autorität“, zu ersetzen.

Der Polizei mangelt es an allem. Die US- Rhein-Armee spendierte zwar großzügig die neuen vierradangetriebenen Polizeiautos, Funkgeräte sind aber keine vorhanden. „Wir wollten nicht das wenige vorhandene Geld für teure Ausrüstung ausgeben. Dann würden die Leute sauer werden, daß wir es nicht für wichtigere Dinge benutzen. Ein Funkgerät kostet immerhin 700 US-Dollar“, erklärt ein hoher Sicherheitsoffizier. Jetzt sitzt die oberste Polizeispitze in einem in den letzten Monaten gebauten Strandhotel und fiebern vor der Mattscheibe den neuesten Spielen der Fußball- Weltmeisterschaft entgegen. Gelegentlich wird einer der Offiziere dabei gestört und höflich an die Rezeption zum Telefon gebeten. Der neueste Lagebericht ist da.

Letzte Woche konfiszierte die Polizei bei mehreren Festnahmen über zwei Kilo Kokain. Sichergestellt hieß in diesem Fall jedoch nicht, sicher zu sein, um welchen Stoff es sich handelt. Eine Probe mußte erst zur Untersuchung nach Ägypten geschickt werden. Die hiesige Polizei besitzt kein eigenes Labor. „Was, wenn jemand in ein Haus einbricht und sie Fingerabdrücke untersuchen müssen. Schicken sie dann das Haus nach Kairo?“ witzelt man nun über derartige ermittlerische Unzulänglichkeiten.

Aber noch gehen alle liebevoll mit ihrer neuen Polizei um, und diese versucht ihrerseits, höflich und zuvorkommend zu sein. Viele reden von den Flitterwochen mit der Polizei, nachdem man anfangs befürchtet hatte, daß die von PLO-Chef Jassir Arafat handverlesenen Ordnungshüter hart mit der Opposition ins Gericht gehen würden. Derzeit geben beiden Seiten sich Mühe. Die Bewohner von Gaza loben ihre sanfte Polizei, und diese lobt ihre verantwortungsvollen Bürger, die die leicht chaotische Situation nicht zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen.

Die alte israelische Militärverwaltung ist abgezogen und die neue palästinensische Selbstverwaltung erst rudimentär vorhanden. Die ersten Minister wurden bereits vom PLO-Hauptquartier in Tunis bestimmt. Bisher haben die neuen Ministerien aber noch kein Budget. „Ein Ministerium besteht aus einem Minister, einem Assistenten und einem Leibwächter für den Minister“, beschreibt der Gaza-Ökonom Salah Abdel Schafi die Situation. Ansonsten werden die Büros der alten israelischen Militärverwaltung entstaubt. Ähnlich wie im Postamt wurde auch hier der Neuanfang oft mit einem Topf weißer Farbe besiegelt.

Besonders drastisch ist der Übergang im Finanzamt. Im Gegensatz zu den anderen Behörden, in denen bis auf die oberen Ränge in der Regel palästinensische Angestellte saßen, hatten die meisten Angestellten der weltweit unbeliebtesten Behörde mit Beginn des Aufstandes ihre Entlassung eingereicht. Sie wollten nicht für die Besatzung auch noch die Steuern eintreiben. Jetzt muß ein vollkommen neues Steuersystem ausgearbeitet, Angestellte von der Pike auf neu angelernt werden. Es gilt möglichst schnell die laufenden Kosten der 6.000 Mitarbeiter der palästinensischen Verwaltung aus den Steuereinnahmen abzudecken.

Bisher bettelt die PLO-Führung bei ausländischen Geldgebern. Diese hatten 42 Millionen Dollar für die laufenden Verwaltungskosten versprochen. Das zögerlich eintreffende Geld für die Bezahlung der Löhne wird später allerdings von der Gesamtsumme der ausländischen Hilfe für die Selbstverwaltung in Höhe von 2,4 Milliarden Dollar wieder abgezogen. „Je mehr Geld wir jetzt von der Entwicklungshilfe für unsere Verwaltung aufzehren, um so weniger wird später für Projekte da sein“, betont Abdel Schafi.

Ohnehin gibt es für die Auszahlung der Gehälter noch kein Bankensystem. Der ehemalige PLO- Chefunterhändler und heutige Planungsminister Nabil Al-Schaat brachte die Gelder für die laufenden Kosten der ersten Monate in einem Koffer nach Gaza.

Die fehlende Verwaltung macht sich auch auf dem Wohnungsbausektor bemerkbar: es gibt kein Bauamt. Die staatliche US-Entwicklungsorganisation USAID will 25 Millionen Dollar für den Bau neuer Häuser bereitstellen. Anstelle der noch nicht existierenden Behörde brachte USAID für teures Geld eine private US- Firma nach Gaza, die nun die Projekte ausschreiben und überwachen soll, bis ein Bauamt diese Aufgaben übernehmen kann.

Trotz all dieser Schwierigkeiten sind die Einwohner Gazas froh über die neue palästinensische Verwaltung. „Sie sind besoffen von den Uniformen der neuen palästinensischen Polizei und den palästinensischen Fahnen“, beschreibt Abdel Schafi.

Derweil sieht die Realität nicht ganz so rosig aus. Es ist eine Illusion, anzunehmen, der ganze Gaza-Streifen unterliege heute der palästinensischen Autorität. Wer glaubt, alle israelischen Soldaten seien abgezogen, wird schnell eines Besseren belehrt, wenn er Gaza- Stadt mit dem Auto verläßt. Die ersten Straßensperren der israelischen Armee lassen nicht lange auf sich warten. Noch immer ist ein Drittel des Gaza-Streifens mit Siedlungen, Siedlerstraßen und Militärzonen in israelischer Hand.

Die Grenzen der im Kairoer Vertrag vom 4. Mai festgelegten Bestimmungen der Selbstverwaltung werden ebenfalls schnell deutlich. Etwa im Rechtssystem: Knackt ein Israeli ein palästinensisches Auto innerhalb des autonomen Gebietes, dann ist die israelische Polizei und Rechtsprechung für den Fall verantwortlich. „Das Gesetz folgt hier der Person, nicht die Person dem Gesetz“, erläutert Raji Sorani, ein prominenter Rechtsanwalt und Leiter des Menschenrechtszentrums in Gaza, die konfuse Situation. Ein klassisches Kolonialmuster, wie er hinzufügt.

Die eigentliche Zeitbombe tickt auf ökonomischem Gebiet. Als die UNRWA, die UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge, vor wenigen Monaten vier Stellen für Straßenfeger ausgeschrieben hatte, bewarben sich 12.586 Menschen, darunter auch einige Akademiker, erzählt der Wirtschaftsberater der UNRWA, Abdel Latif Midayn, noch heute entsetzt. „Aber wie können wir nach 27 Jahren israelischer Besatzung nicht optimistisch sein, mit dem wenigen, was man uns jetzt gegeben hat? Sonst müßten wir uns einen Stein um den Hals hängen, zum Strand laufen und uns ins Meer stürzen.“ Die verzweifelte Zuversicht eines Ökonomen in Gaza.

Salim Al-Tawil ist Geschäftsmann. Normalerweise verkauft er Autos. Seit dem Kairoer Abkommen hat er aber keinen einzigen Wagen abgesetzt. Im Abkommen ist zwar festgelegt, daß die neue palästinensische Verwaltung in Zukunft die Steuern und den Importzoll für alle Kraftfahrzeuge festlegen darf. Geschehen ist bisher allerdings nichts.

Doch dann unterbricht Al-Tawil seine Klagen über die unklare Situation, springt von seinem Schreibtischsessel auf und deutet aus dem Fenster. „Da draußen hat vor wenigen Monaten eine Handvoll israelische Soldaten auf einen am Boden liegenden palästinensischen Jungen eingetreten“, erzählt er aufgebracht, als sei es gerade vor fünf Minuten geschehen. „Wir hatten vier Jahre lang israelische Soldaten auf unserem Dach. Es gab jeden Tag Zusammenstöße, Streiks und Schießereien.“ Zum Beweis zeigt er auf ein Einschußloch in seinem Bürofenster. „Schau jetzt raus, wie friedlich und sicher es ist.“ Beruhigt setzt er sich wieder in seinen Sessel. „Was ist wichtiger, der Verkauf eines Autos oder in Sicherheit zu leben?“ fragt er. Sicher, alles gehe langsam, Gaza lebe noch in einer Art Besatzungs-Psychologie. Die Leute warteten ab und trauten dem Frieden noch nicht ganz. „Das ist wie in der ersten Woche nach dem Fastenmonat Ramadan“, vergleicht Al-Tawil. „Einen Monat lang hat man tagsüber gefastet. Dann ist es ein merkwürdiges Gefühl, wenn man wieder eine Tasse Kaffee trinken kann. Gleichzeitig genießt man es aber auch. Es braucht Zeit, bis sich der Mensch wieder ans Essen gewöhnt.“

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