Polens politische Elite hat ein Stasi-Problem

■ Akten aus der Berliner Gauck-Behörde fachen Lustrationsdebatte erneut an / Präsident Walesa hält KGB-Dokumente über Solidarność unter Verschluß

Warschau (taz) – Nur Stunden nachdem die Regierung den mißlungenen Versuch gemacht hatte, die Geheimdienstverbindungen führender Politiker aufzudecken, war sie abgewählt. Vor dem Archiv des Innenministeriums zogen bewaffnete Wachen auf. Das war am 4. Juni 1992, die Regierung hieß Olszewski und der lustrationsfeindliche Innenminister Milczanowski. Er ist bis heute auf seinem Posten und achtet peinlichst darauf, daß alles, was mit Polens Stasi- Vergangenheit zu tun hat, unter Verschluß bleibt. Doch in letzter Zeit hat er ein ernstes Problem: Immer mehr Akten kommen aus dem Ausland und zwingen Polens politische Elite, sich dem verdrängten Problem zu stellen.

Bereits im Mai berichtete das polnische Fernsehen von der Aufzeichnung eines Gespräches aus dem Jahre 1981, das der damalige DDR-Konsul in Breslau mit dem damaligen Ersten Woiwodschaftssekretär von Hirschberg, Stanislaw Ciosek, geführt hatte. Ciosek soll sich darin für eine Intervention des Warschauer Pakts in Polen ausgesprochen haben. Die Notiz des Konsuls landete erst im Stasi-Archiv, dann bei der Gauck-Behörde und kam so in die Hände der polnischen Journalisten. Ihre Berichte weckten in Polen schlafende Hunde: Stanislaw Ciosek ist bis heute Botschafter Polens in Rußland. Seither führt das Justizministerium einen Eiertanz auf, um die Gauck-Akten nicht offiziell anfordern zu müssen.

Bereits die Regierungen Suchocka, Mazowiecki und Bielecki waren der Ansicht, die Akten dauerhaft unter Verschluß halten zu können, um so Polens politische Elite vor der Kompromittierung zu schützen. So richtig gelungen ist das nicht: Allzuviel Material aus dem Innenministerium sickerte inzwischen an die Öffentlichkeit durch. Zuletzt etwa die Information, Marcel Reich-Ranicki habe nach dem Krieg in London im Dienst des polnischen Geheimdienstes gestanden. Die Nachricht erregte zwar in Polen nicht sonderlich die Gemüter, doch Ranickis Karteikarte ist Teil einer ganzen Sammlung, die unter Eingeweihten kursiert.

Um so mehr muß Polens Linksregierung daran gelegen sein, den Geist in die Flasche zurückzuzwingen, sonst wird sie unweigerlich mit einer erneuten Debatte über Schuld und Sühne konfrontiert. Ein Schulterschluß der antikommunistischen Opposition, die heute in ein Dutzend Parteien gespalten ist, wäre die Folge, und hinter dem sorgsam gepflegten Image einer fortschrittlichen Sozialdemokratie käme erneut das ex-kommunistische Schreckgespenst zum Vorschein. Klar, daß die Akten aus Berlin da zur Unzeit kommen. Und nicht nur sie.

Vor kurzem erschienen in Rußland die Memoiren von Boris Jelzin, der darin auch seinen Besuch in Warschau im letzten Jahr beschreibt. Er habe Walesa damals auch KGB-Berichte über die Solidarność-Elite der achtziger Jahre mitgebracht. Als er sie überreichte, sei Walesa „ganz blaß im Gesicht“ geworden. Viele dieser Dokumente wurden bereits einen Tag später in der Presse veröffentlicht – mit Ausnahme der Berichte über Solidarność.

Unter dem Druck der ausländischen Akten bröckelt die Front der Lustrationsverweigerer immer mehr ab. Inzwischen hat selbst Innenminister Milczanowski eine Novelle vorgelegt, die es Gerichten ermöglichen soll, zumindest bei schweren Verbrechen Einsicht in die Geheimdienstakten zu nehmen. Bisher mußten sich die Richter stets damit abfinden, daß Milczanowski ihnen die Einsicht verweigerte und statt dessen mitteilen ließ, der Betreffende sei kein Spitzel gewesen – obwohl sein Vorgänger häufig aufgrund der gleichen Akten zum gegenteiligen Schluß gekommen war.

Daß Milczanowski, früher selbst Solidarność-Aktivist, nun nachgibt, ist die direkte Folge eines Ermittlungsverfahrens wegen Mordes an dem oppositionellen Studenten Stanislaw Pijas, das nach 17 Jahren wieder aufgenommen wurde. Der ermittelnde Staatsanwalt behauptet, der Mord könne geklärt werden, da Pijas bis unmittelbar vor seinem Tod von einem Dutzend Spitzeln überwacht worden sei. Nur daß Milczanowski eben bisher der Ansicht war, die Namen dieser Spitzel seien Staatsgeheimnis.

Selbst lustrationsfeindliche Politiker der „Freiheitsunion“ und der Liberalen fanden das übertrieben. Inzwischen verdichten sich die Anzeichen dafür, daß sich Polens Parlament in absehbarer Zeit doch noch mit einem Lustrationsgesetz wird befassen müssen. Glaubt man dem Nachrichtenmagazin Wprost, so befindet sich in den Kellern der Gauck-Behörde noch genug politischer Sprengstoff. Und von Deutschland will man sich in Polen die Lustration schon gar nicht abnehmen lassen. Klaus Bachmann