„Irgendwie geht es immer“

Die Frauenbewegung in St. Petersburg zwischen täglichem Überlebenskampf und feministischem Aufbruch / Eine äußerst heterogene Koalition gegen Gewalt und soziale Apathie  ■  Von Dorothee Robrecht

Das „Petersburger Zentrum für Gender-Probleme“ ist eine Art Knotenpunkt der Frauenbewegung in St. Petersburg. Hier wird für Vernetzung gesorgt, werden die Adressen der einzelnen Frauenprojekte gesammelt und weitergegeben. Die Liste ist beeindruckend: 42 Frauenorganisationen sind bisher verzeichnet. Nicht nur, daß es so aussieht, als wäre es der russischen Frauenbewegung gelungen, sich innerhalb von nur wenigen Jahren zu organisieren; sie scheint es auch geschafft zu haben, sich zu institutionalisieren – und das im Rußland von heute, in einem Land, dessen gesellschaftliche Infrastruktur durch die Turbulenzen der Post-Perestroika fast völlig zerstört worden ist.

Aber wie fast jeder schöne Schein, so trügt auch dieser: „Ein ganz großer Teil der Petersburger Frauenorganisationen“, so Elena Sabadykina, eine der sieben Mitarbeiterinnen des von der Hamburger Frauenanstiftung finanzierten Zentrums, „ist ganz einfach eine Reaktion auf existentielle Not. Auch wenn sie Kulturprogramme anbieten – was diese Verbände wie etwa die „Union weiblicher Invaliden“ oder auch der Witwen-Verband „Valita“ machen, beschränkt sich im wesentlichen auf die Verteilung materieller Güter, auf humanitäre Hilfe also.“ Kaum etwas könnte die Realitäten postsowjetischen Lebens so sehr auf den Punkt bringen wie der Name besonders einer Organisation, die sich, wörtlich übersetzt, „Bewegung der Frauen für das Am-Leben-bleiben“ nennt.

Es klingt dramatisch, und das ist es wohl auch. Dabei gibt es alles zu kaufen, vom Schokoriegel bis hin zur Bluse von Escada. Abgesehen von der gelegentlich etwas eigenwilligen Art der Warenpräsentation – ein großer, weißgoldener Schwan, der den neuen Luxus, in diesem Fall diverse Schachteln Tampax, auf Flügeln und Kopf balanciert – unterscheidet heute kaum noch etwas die Kaufhäuser der Stadt von westlichen Konsumtempeln. Auch nicht die Preise.

Wie also lebt die überwältigende Mehrheit der RussInnen, die mit einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 100 bis 150 Mark auskommen muß, wenn nicht einmal ein simples Paar Schuhe für unter 50 Mark zu haben ist und selbst ein einfaches Zimmer innerhalb einer von oft mehreren Familien bewohnten Kommunalwohnung immer öfter in harter Währung, in Dollar nämlich, zu zahlen ist? „Irgendwie“, so Natascha Popova, eine weitere Mitarbeiterin des Zentrums, „geht es immer. Zumindest solange man noch eine Arbeit hat. Viel schlimmer ist die existentielle Unsicherheit. Es macht die Leute ganz einfach verrückt, daß sie heute verlieren können, was sie früher nie verloren hätten, Wohnung und Arbeit, Sicherheit eben.“

Und hier scheiden sich die Geschlechter: Natürlich, die Radikalität der Jelzinschen Reformen, die Brutalität ihrer Nebenwirkungen, ob Arbeitslosigkeit, Zunahme von Gewaltverbrechen oder Verlust der Wohnung durch nicht selten ziemlich skrupellose Privatisierungen – all das trifft Männer und Frauen. Besonders die Frauen aber bekommen die Härten des neuen Rußland mit aller Wucht zu spüren. Das hat durchaus historische Wurzeln: Noch nie, weder vor noch nach irgendeiner Revolution, hatten die russischen Frauen die gleichen Rechte und Chancen wie die Männer. Durchaus folgerichtig also, wenn sie heute als erste entlassen werden und 70 Prozent der Arbeitslosen ausmachen.

Um so bewunderungswürdiger die gar nicht so kleine Zahl der Selfmadefrauen, die entlassen wurden, sich dann aber selbst ihre Arbeitsplätze schufen: sei es die ehemalige Kommandantin einer Milizeinheit, die heute Massagen gibt; sei es die Immobilienmaklerin, die Händlerin, die früher einmal Textilingenieurin war oder auch die Fahrerin, die meist ausländische Touristen für einen Tagessatz von 50 Mark chauffiert – ihnen zumindest ist es gelungen, sich eine eigene, wenn auch immer wieder gefährdete Existenz zu gründen, und das, obwohl die ehemals normierten Lebensläufe der Sowjetunion sie auf ein solches Leben wohl kaum vorbereitet haben dürften. Daß sie repräsentativ sein könnten, ist allerdings nicht anzunehmen. „Die meisten Frauen reagieren auf die Verdrängung vom Arbeitsmarkt und aus der politischen Entscheidungsfindung mit Apathie“, so die Historikerin und Soziologin Irina Jukina. Und Angst, so wäre hinzuzufügen. Rußland ist ein Patriarchat in der Krise, und als solches reagiert es nicht zuletzt mit physischer Gewalt. Und diese Gewalt hat viele Gesichter: Daß die Zahl allein der registrierten Vergewaltigungen innerhalb eines Jahres um mehr als 34 Prozent gestiegen ist, ist nur das kenntlichste. Den Angaben praktizierender PsychologInnen zufolge haben 40 bis 60 Prozent aller Frauen sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt.

Die männliche Verfügungsgewalt über weibliche Körper hat allerdings auch ein wesentlich weniger dramatisches und geradezu alltägliches Gesicht: Da Verhütungsmittel nach wie vor Mangelware und noch dazu teuer sind, ist Abtreibung das auch heute noch gängigste Mittel der Familienplanung. Rund 80 Prozent der ungewollt Schwangeren versuchen eine Abtreibung in Heimarbeit, obwohl sie offiziell erlaubt und sowohl für Geld als auch ohne zu haben ist. Das läßt einiges vermuten, was die Qualität der in den Krankenhäusern durchgeführten Unterbrechungen betrifft.

Den russischen Feministinnen ist bewußt, daß diese Gleichgültigkeit der Gesundheit und dem Leben von Frauen gegenüber einer Politisierung dringendst bedarf. Neben dem „Petersburger Zentrum für Gender-Probleme“ bemühen sich darum vor allem die Frauenorganisationen, die sich, zahlenmäßig allerdings in der Minderheit, als „nicht-traditionelle“ definieren. Sie suchen dabei die Zusammenarbeit auch mit den eher traditionell ausgerichteten Verbänden, wie etwa die „Soldatenmütter von Sankt Petersburg“. Denn in einem Land, das an seiner Privatheit zu ersticken drohte, weil es nie einen öffentlichen Raum gekannt hat – selbst seine elementarsten Voraussetzungen, allgemein zugängliche Cafés, Kneipen und Restaurants, sind eine Erscheinung erst der letzten Jahre – ist alle Frauenpolitik, die „draußen“ agiert, eine unverzichtbare Stütze.

Daß es aufgrund legislativer Mängel bis heute unmöglich ist, Sponsoren und damit auch Finanzierungen aufzutreiben, daß, ganz im Gegenteil, die Feministinnen ihren Feminismus mit einem äußerst niedrigen Sozialprestige bezahlen, sind nur einige der Schwierigkeiten, mit denen sich besonders die nicht-traditionell arbeitenden Verbände konfrontiert sehen. Das größte Problem allerdings scheinen die Frauen selbst zu sein: „Das Gender-Bewußtsein russischer Frauen“, so Elena Sabadykina, „orientiert sich vorwiegend an der Rolle als Mutter, in der Gesellschaft allgemein, ganz besonders aber den Männern gegenüber. Die Frauen denken: Wir müssen den Männern helfen, sie aufs Konstruktive hinlenken, ihnen erklären, was sie wie machen sollen.“ Ein solches Rollenverständnis hat dem aktuellen Wiederaufleben patriarachaler Werte nicht allzuviel entgegenzusetzen. Wenn dann noch hinzukommt, daß diese Werte kaum je erschüttert wurden, daß es, abgesehen von einem kurzen, längst vergessenen Aufbruch nach der Bauernbefreiung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, so etwas wie eine Frauenbewegung nie gegeben hat, dann sind die ersten Erfolge russischer Feministinnen um so beachtlicher: Das vom Zentrum herausgegebene Bulletin etwa ist derart informativ, daß eine Übersetzung ins Deutsche nur wünschenswert wäre. So schwer es den russischen Feministinnen auch gemacht wird: „Hoffnung“, so Natascha Popova, „ist immer.“