... damit alles so bleibt, wie es ist!

Der Bundestag debattierte in Berlin die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission Kein Lufthauch mehr vom 89er Aufbruch und seinen Verfassungs-Ambitionen  ■ Von Christian Semler

Die wichtigste Verfassungsänderung, vermittels derer unser Parlament das Grundgesetz den gewandelten Verhältnissen nach 1989 anpaßte, ging vor ziemlich genau einem Jahr über die Bühne – das Grundrecht auf Asyl wurde faktisch abgeschafft. So haben Regierung und Opposition ebenso einträchtig wie gründlich die Verpflichtung erfüllt, die ihnen der Einigungsvertrag in seinem Art. 5 auferlegte, nämlich: „sich mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“.

Bei der Amputation des Art. 16 legte das Parlament ein solches Maß an Konsequenz und Resolutheit an den Tag, daß für die Arbeit in der Verfassungskommission, der sich – paritätisch – Abgeordnete des Bundestages und der Länderparlamente unterzogen, rein nichts mehr an konstitutionellem Elan übrigblieb. Energisch zeigte sich die Mehrheit der Kommission lediglich, wenn es ans Abbremsen, Umbiegen, Verwässern und Blockieren ging, lauter Aktivitäten, in denen Prof. Ruppert Scholz (CDU) als Kommissionschef sein juristisches Ingenium spielen ließ. Die vorgeschriebene Zweidrittelmehrheit für Änderungsvorschläge brachte es mit sich, daß Koalitionen, etwa zwischen SPD- Vertretern, Bündnisgrünen und Liberalen, an der CDU/CSU-Phalanx zerschellten.

Parteivertreter und Regierungsjuristen prägten, wenn man von der relativ offenen Auseinandersetzung über die europarechtlichen Neubestimmungen im Grundgesetz absieht, den bürokratisch-etatistischen Geist der Debatten. Der Abschlußbericht der Kommission verweist zwar stolz auf Hunderttausende individueller und „Masseneingaben“ der BürgerInnen, verschweigt aber deren Schicksal. Zu Recht, guckt man sich das Ergebnis der Arbeit an.

Entnervt verließen die Abgeordneten Ullmann und Poppe, Ko- Autoren des „Runder-Tisch“-Verfassungsentwurfs für die DDR von 1990 und nicht ganz unbeteiligt an den „Ereignissen“, die die deutsche Einheit brachten, bereits vor Jahresfrist das Gremium. Selbst ihre elementarste Forderung an eine zivile Verfassung, daß nämlich die Bürger respektive die Menschen Träger von Grundrechten sind und nicht die Deutschen respektive jeder, wie es das gegenwärtige Grundgesetz festlegt, wurde an der politischen Entwicklung zuschanden. Weiterhin sind es nur die Deutschen, die sich frei versammeln und die Vereine gründen dürfen, die Freizügigkeit genießen und die Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei wählen können. Welchen Einfluß hätte es auf die politische Entwicklung in der Bundesrepublik gehabt, wenn statt der Angstkampagne zur Abschaffung des Art. 16 eine öffentliche Debatte über die Streichung des Begriffs Deutscher im Grundgesetz gelaufen wäre? Schon diese hypothetische Überlegung zeigt, wie wenig es hier um alltagsferne semantische Spitzfindigkeiten ging beziehungeweise gegangen wäre...

Was aber waren die „durch die deutsche Einheit aufgeworfenen Fragen“ gewesen, deren verfassungsrechtliche Bearbeitung der Einigungsvertrag keineswegs festlegte, sondern „empfahl“? Neben dem künftigen Bund/Länder-Verhältnis und der möglichen Aufnahme weiterer Staatsziele ins Grundgesetz sollte es um „die Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung“ gehen. Gemeint war damit, daß im vereinten Deutschland eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden könnte, die ein neues Grundgesetz auszuarbeiten und dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten hätte. Wie problematisch auch nach dem Einigungsvertrag ein solches Verfahren sein mochte: es hätte die Möglichkeit einer öffentlichen Debatte mit dem Ziel der Generalrevision des Grundgesetzes eröffnet. Anläßlich einer solchen Debatte hätte sich herausgestellt, daß es zwischen den bürgerrechtlichen Verfassungspositionen des „Runden Tisches“ und der Vorstellung eines „moralisch reflexiven Konstitutionalismus“, wie er von demokratischen Verfassungsrechtlern im Westen gefordert wurde, eine unterirdische Verbindung gab. Die Kongruenz bestand wersentlich darin, die Verfassung als eine gesellschaftliche Veranstaltung aufzufassen, mittels derer die Gesamtheit der Bürger sich Institutionen der Selbstbindung und der Selbstkorrektur schafft. Deshalb spielt die Verfassung auch nicht nur auf der Achse Bürge–Staat, sondern bezieht das Verhältnis der Bürger (und ihrer Vereinigungen) zu sich selbst ein. Kern dieses Verfassungsverständnisses war der schöne an Kant geschulte Verfassungssatz „Jeder schuldet Jedem die Anerkennung als Gleicher“, den Peter Müller, Kirchenmann aus Schwerin, in die Verfassungsdiskussion des „Runden Tisches“ einbrachte und der sich, modifiziert, auch im Verfassungsentwurf für den „Bund deutscher Länder“ fand. Sucht man nach Spuren dieser beiden Dokumente in den Beratungen der Bonner Verfassungskommission, man wird sie ausnahmslos unter der Rubrik „nicht empfohlen“ finden.

Die Absicherung der Bürgerinitiativen, informationelle Selbstbestimmung, Offenlegung von Daten, Zugang zu den Informationen öffentlicher Verwaltungen – alle Elemente eines künftigen Frühwarnsystems, das notwendige gesellschaftliche Veränderungen begünstigt, sind als überflüssig oder verfassungs-systemfremd eliminiert worden. Dem als Staatsziel konzipierten Umweltschutz ist der letzte Zahnstummel gezogen worden. Zeitgemäßes Verfassungsrecht? Die Initiative ist auf die Provinz übergegangen. Nicht das Grundgesetz, sondern ein paar neue Länderverfassungen. Nicht Bonn (Berlin) sondern Kiel, Hannover und Potsdam.